Franz-Josef und die Atomkraft – Rede beim 9. Marburger Montagsspaziergang am 9. Mai 2011

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Mitstreitende!

Meinen Vornamen Franz-Josef verdanke ich einem beleibten bayerischen Politiker. Mein Vater war ein Fan dieses damaligen Nachwuchstalents, das mir heute als Beispiel dienen soll für den Umgang der deutschen Politik mit Rüstung, Atomkraft und mit demokratischen Rechten.

Den Älteren hier auf dem Marktplatz ist Franz-Josef Strauß sicherlich ein Begriff. In meinem Geburtsjahr 1955 wurde er Bundesminister für Atomfragen.

Nicht nur in dieser Funktion hat Strauß sehr entschieden zwei strategische Vorhaben vorangetrieben:

Zum einen setzte er sich für den Bau von Atomkraftwerken durch private Betreiber ein, während andere sich seinerzeit für staatlich betriebene Atomanlagen aussprachen, sofern sie diese Technologie überhaupt akzeptierten.

Zum Zweiten hat Strauß auch mit dem Griff nach der Atombombe geliebäugelt, was bereits 1956 konsequenterweise zu seiner Einsetzung als Bundesverteidigungsminister führte. Sein Vorhaben einer deutschen Atombombe scheiterte damals aber am Widerstand von 200 Naturwissenschaftlern. Unter ihnen waren die Nobelpreisträger Werner Heisenberg und Otto Hahn, der übrigens hier in Marburg studiert hat.

Dass der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer die Atombewaffnung schließlich aufgeben musste, war ein erster großer Erfolg der Anti-Atom-Bewegung in der Bundesrepublik. Schon hier erkennt man allerdings deutlich den Zusammenhang zwischen der militärischen und einer angeblich zivilen Nutzung der Atomkraft.

Kein anderer als Strauß war 1960 auch Urheber des ersten deutschen Atomgesetzes. Zeitlebens hat er sich für den Bau von Atomanlagen eingesetzt, was sich auch in der geplanten Wiederaufbereitungsanlage im bayerischen Wackersdorf niederschlug. Ihre Verhinderung war ein weiterer wichtiger Erfolg der Anti-Atom-Bewegung.

Wegen der sogenannten „Spiegel-Affäre“ musste Strauß 1962 vom Amt des Verteidigungsministers zurücktreten. Als das Hamburger Nachrichtenmagazin seine Verwicklung in korrumptive Rüstungsgeschäfte publik machte, ließ Strauß den Spiegel-Herausgeber Rudolf Augstein und den Chefredakteur Conrad Ahlers kurzerhand verhaften.

So wollte er die – für ihn höchst unangenehme – Wahrheit unterdrücken und missliebige Kritiker mundtot machen. Sein – auch durch öffentliche Proteste erzwungener – Rücktritt war ein riesiger Erfolg der demokratischen Kräfte in der Bundesrepublik und ein nachhaltiges Mahnmal für die Pressefreiheit.

Selbst ein politisches Schwergewicht wie Strauß war also durch demokratische Proteste zu besiegen. Auch die Atomkraft werden wir wohl bald hinwegfegen in den Orkus der Geschichte, wo allein sie hingehört!

Bestechung, Lügen und die Unterdrückung der Meinungsfreiheit haben die Karriere des Franz-Josef Strauß allerdings nicht dauerhaft beendet. Aber er ist ja schon seit 1988 tot. Heute ist doch alles ganz anders!

Das, liebe Freundinnen und Freunde, würde auch ich nur allzu gerne glauben. Es wäre nur zu schön, wenn bei der Friedens- und Atompolitik heute alles demokratisch zuginge!

Doch wie ist es möglich, dass deutlichen Mehrheiten der Bevölkerung gegen den Krieg in Afghanistan und gegen die Nutzung der Atomenergie fast gleich große Mehrheiten im Bundestag für Kriegseinsätze der Bundeswehr und für die Verlängerung der Atomlaufzeiten gegenüberstehen? Freundlich könnte man das mit dem Begriff „Demokratie-Defizit“ ausdrücken.

Der katholische Sozialethiker Prof. Dr. Friedhelm Hengsbach SJ hat bei der Verleihung des Marburger Leuchtfeuers 2006 dafür den Begriff „Postdemokratie“ gebraucht: Kleine Zirkel aus Wirtschaft und Regierung kungeln aus, was sie politisch durchsetzen wollen. Der Bundestag winkt diese Beschlüsse dann nur noch durch, um sie – formal korrekt, aber nur scheinbar demokratisch – zu legitimieren.

Das ist für mich keine gelebte Demokratie. Es ist ein Skandal, dass in Ministerien Vertreter von Wirtschaftsverbänden – auch der Atom-Lobby – sitzen und Gesetzentwürfe mit formulieren!

Leider beteiligen sich auch Medien an undemokratischen Legitimierungsstrategien und einer Verharmlosung der Atomkraft. Während in den ersten Tagen nach der Katastrophe von Fukushima die erschütternden Bilder einer offensichtlich schwer ramponierten Reaktor-Ruine fast im Minutentakt über die Fernsehbildschirme flimmerten, ist es mittlerweile bedenklich still geworden um die Vorgänge dort.

Dabei sind die Gefahren – wie Gunter Kramp vom Anti-Atom-Plenum Marburg am 28. April im Rathaus deutlich gemacht hat – beileibe noch nicht beseitigt. Die Katastrophe ist immer noch in vollem Gange.

Doch statt einer kontinuierlichen Information darüber gibt es in zunehmendem Umfang „Berichte“ über technische Schwierigkeiten und Kosten, die angeblich mit dem Atomausstieg verbunden seien. Die Probleme der Zentralisierung von Windkraftanlagen weit draußen vor der Küste sowie der Stromerzeugung aus Kohle und Atomkraft hingegen werden kaum thematisiert. Bestellte Bedenkenträger der gewinnorientierten Großkonzerne kommen öfter zu Wort als Befürworter der dezentralen Energiegewinnung mit ökologischer Kraft-Wärme-Kopplung vor Ort.

Gerade auch angesichts der zunehmenden Pressekonzentration begrüße ich die Entwicklung alternativer Medien im Internet. Eine Nutzung des Webs kann nicht nur in Ägypten oder Tunesien mithelfen, demokratische Strukturen von unten aufzubauen. Die – im Grundgesetz garantierte – Informationsfreiheit darf deshalb nicht durch eine Vorratsdatenspeicherung gefährdet werden, die Blogger möglicherweise einschüchtern könnte.

„Wir brauchen mehr Demokratie!“ Dieser Forderung des einstigen Bundeskanzlers Willy Brandt ist auch heute noch nichts hinzuzufügen.

Schon damals warnten zukunftsorientierte Geister vor den Gefahren der Atomtechnik für die Demokratie. Einer von ihnen war der Widerstandskämpfer und Friedensaktivist Robert Jungk.

In seinem Buch „Heller als tausend Sonnen“ hatte er schon 1956 „Das Schicksal der Atomforscher“ kritisch beleuchtet. In den Jahren 1959 bis 1970 folgten weitere Veröffentlichungen wie Jungks Plädoyer „Vom blinden zum wissenden Fortschritt-“ oder „Griff nach dem Atom“.

Jungks berühmtestes Buch „Der Atomstaat – Vom Fortschritt in die Unmenschlichkeit“ warnte schon 1977 sehr eindringlich vor den Gefahren einer Nutzung der Atomenergie für die Freiheitsrechte der Menschen. Eine dermaßen gefährliche Technologie müsse zwangsläufig so rabiat „geschützt“ werden, dass eine fast unbegrenzte Ausweitung polizeilicher Befugnisse die logische Folge wäre.

Erste Ansätze derart repressiver Polizeimaßnahmen haben Atomkraftgegner schon Ende der 70er Jahre zu spüren bekommen. Trotzdem ist die Anti-Atom- und Alternativbewegung seither ständig stärker geworden.

Der rücksichtslose Raubbau an der Natur ist indes noch lange nicht eingedämmt. Die viel zitierte „Klima-Katastrophe“ kann Naturereignisse auslösen, die wir uns heute noch gar nicht vorstellen wollen.

Dagegen und gegen perverse Terrorakte kann kein – auch noch so brutaler – Polizeistaat irgendeine Atomanlage schützen. Der einzige Schutz vor solchen Gefahren ist das Abschalten, und zwar jetzt und zwar alle und für immer!

Mit seinem Brokdorf-Beschluss hat das Bundesverfassungsgericht hohe Hürden eingebaut, die friedliche Demonstrationen schützen sollen. Immerhin 50.000 Menschen hatten sich am 28. Februar 1981 vor dem Atomkraftwerk Brokdorf versammelt, um gegen ein Demonstrationsverbot des dortigen Landrats zu protestieren.

1985 hat das Bundesverfassungsgericht dieses Verbot für verfassungswidrig erklärt. Das Versammlungsrecht ist ein elementares Grundrecht, das nach Auffassung der Karlsruher Richter nur unter sehr engen Einschränkungen beschnitten werden darf.

Die Humanistische Union – kurz HU – ist eine Bürgerrechtsorganisation. In diesem Jahr feiert sie ihr 50-jähriges Bestehen. Eine der wichtigsten Erfahrungen aus unserer bisherigen Arbeit ist die alte Erkenntnis, dass Demokratie immer wieder von Neuem erkämpft werden muss.

Deswegen stehe ich heute hier. Und deswegen war ich am Ostermontag auch zusammen mit gut 600 Marburgerinnen und Marburgern sowie weiteren 15.000 Demonstrierenden in Biblis. Denn die beiden Blöcke des AKW Biblis müssen abgeschaltet bleiben!

An dieser Stelle möchte ich den Aktiven vom Anti-Atom-Plenum, von „Ausgestrahlt“ und all den anderen danken, die diese vielen Veranstaltungen zur Atomenergie überhaupt erst möglich gemacht haben. Jede Woche trifft sich das Anti-Atom-Plenum Marburg mittwochs um 20 Uhr in den Räumen von Radio Unerhört, um die nächsten Termine vorzubereiten. Unser Dank für diese kontinuierliche Kraftanstrengung könnte ein kleiner Applaus, sollte aber vor allem die Teilnahme an den nächsten Montagsspaziergängen sein!

In Anbetracht der massenhaften Proteste gegen gefährliche Atomanlagen und vor allem wegen der erschütternden Ereignisse in Japan sind viele ausgewiesene Befürworter der Atomtechnik jetzt plötzlich zu Gegnern mutiert. Den Einzelnen mag ich ihre Betroffenheit ja auch gerne abnehmen, doch das nun verkündete Moratorium vermag mich nicht zu überzeugen.

Wozu brauchen wir noch eine Ethik-Kommission, die die Nutzung der Atomkraft bewerten soll? Haben wir darüber nicht schon seit Jahrzehnten ausgiebig genug diskutiert?

Ist es nicht die originäre Pflicht jedes gewählten Abgeordneten, immer ethisch zu handeln? Müssen wir die Einberufung einer sogenannten „Ethik-Kommission“ nicht als Armutszeugnis für die Politik verstehen?

Offenbar meinen Regierende und Parlamentarier, für Ethik seien nicht sie zuständig, sondern andere. Wenigstens wir setzen uns für den einzig ethisch Vertretbaren Umgang mit Atomanlagen ein: Abschalten, und zwar jetzt und zwar alle und für immer!

Lasst mich, liebe Mitdemonstrierende, schließen mit der Erinnerung an eine persönliche Bekanntschaft, die in mir bleibende Spuren hinterlassen hat: Bei den Friedensaktionen zum „Fulda Gap“ habe ich 1984 den Atomveteranen Anthony Guarisco kennengelernt. 1946 war er als US-Soldat von seinen Kommandeuren bei Atomtests auf dem Bikini-Atoll gemeinsam mit vielen anderen Soldaten als menschliches Versuchskaninchen direkt in den Strahlenblitz hineingeschickt worden. Sein Rückgrat war verschmolzen; er litt an der Strahlenkrankheit.

Danach hat Anthony sein Leben dem Kampf gegen die Atomenergie gewidmet. Während unserer Rundfahrten durch Osthessen habe ich den Director der „International Alliance of Atomic Veterans“ als sehr eindrucksvolle Persönlichkeit erleben dürfen.

Wenn er vor einer umzäunten Raketenabschussrampe oder einem Atomsprengkopfdepot aus dem Bus ausstieg, dann fiel selbst bei den aggressivsten Jung-Polizisten die Kinnlade runter und sie wurden sehr, sehr nachdenklich. Wenn dieser zerbrechlich wirkende Mann – auf seinen Gehstock gestützt – furchtlos auf sie zuging und sagte „I am a nuclear Veteran“, dann sahen ihm alle an, was er erlitten hatte. Doch Anthony wendete diese lebensbedrohliche Erfahrung in zukunftsbejahende Energie.

Liebe Mitmenschen!
Einen Moment möchte ich innehalten und all derjenigen gedenken, die bereits Opfer der mörderischen Atomstrahlung geworden sind, sei es – wie Anthony Guarisco – bei Atomtests, seien es Liquidatoren in Tschernobyl, Anwohner von Atomanlagen dort und in Fukushima oder irgendwo anders auf der Welt. Wenn wir unseren Kindern und Freunden, unseren Mitmenschen, anderen Lebewesen und uns selbst ein solches Schicksal ersparen und der Menschheit eine lebenswerte Zukunft sichern wollen, dann gibt es nur Eins: Abschalten!

Audiodatei zum Text: hartmuth.mp3

Franz-Josef Hanke

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