Geheimdienste und Strafverfolgungsbehörden sind im Zuge der Aufklärung der NSU-Morde deutlich in die Kritik einer breiteren Öffentlichkeit geraten. Wenn aber von einem systematischen Versagen die Rede ist, so begrenzt sich diese Aussage meist auf das System der Sicherheitsbehörden und meint nicht die eklatanten Missstände des institutionellen und alltäglichen Rassismus in Deutschland. Und so werden parallel zur Aufdeckung der NSU-Strukturen nationalistische Diskurse gegen Migrant_innen, die wie bereits in der Vergangenheit „Integration“ in den Mittelpunkt rücken, wieder lauter. Nicht nur Neonazis, auch „aufgebrachte“ Bürger_innen vertreten ihre rassistischen Einstellungen öffentlich, auf der Straße ebenso wie medial, und Parteien wie „Pro Deutschland“ nutzen für ihre rassistische Propaganda die Gunst der Stunde. Heute müssen in Deutschland wieder Flüchtlinge vor rassistischer Mobilisierung fliehen – in Berlin-Hellersdorf richtet(e) sich diese gegen die Eröffnung einer Flüchtlingsunterkunft, in Duisburg-Bergheim gegen die bloße Anwesenheit rumänischer und bulgarischer EU-Bürger_innen.
Schnell werden bei diesen Bildern Erinnerungen an die massive Gewalt der 1990er Jahre in Rostock-Lichtenhagen, Solingen, Mölln, Lübeck und andernorts wach. Damals richteten sich rassistisch motivierte Überfälle, Mord- und Brandanschläge gegen Migrant_innen und Geflüchtete, ihre Häuser, Wohnungen oder Unterkünfte. Zahlreiche Menschen starben und wurden verletzt. In Rostock beteiligten sich Hunderte an pogromartigen Angriffen auf Unterkünfte von Geflüchteten und Vertragsarbeiter_innen, mehrere Tausend Bürger_innen schauten applaudierend zu. Die zahllosen Übergriffe gingen damals Hand in Hand mit einer politischen Kampagne zur Demontage des Grundrechts auf Asyl, das schließlich im Juni 1993 vom Bundestag mit überwältigender Mehrheit faktisch abgeschafft wurde. Zynisch wurde argumentiert, dass nur eine Beschränkung des Rechts auf Asyl und eine Verschlechterung der Lebensbedingungen der Geflüchteten in Deutschland den Pogromen ein Ende setzen würde.
Zwar unterscheidet sich die Situation heute, wenn selbst die BILD-Zeitung in den rassistischen Aktionen von Hellersdorf eine „Schande für die Hauptstadt“ entdeckt und die politischen und gesellschaftlichen Eliten nicht müde werden, die Bürger_innen für den Einsatz gegen Nazis und für die „Vielfalt“ ihrer Städte zu loben. Auch der institutionelle Rassismus der Behörden selbst verliert infolge der unglaublichen Serie rassistisch motivierten Wegschauens gegenüber tödlicher Gewalt durch NSU und andere organisierte Nazis seine öffentliche Legitimation. Und auch die bei Personenkontrollen angewandte Methode des „Racial Profiling“ wurde gerichtlich für illegitim erklärt. Doch die 1993 beschlossenen Gesetze gelten bis heute und ihre deutsch-nationale Logik beflügelt weiterhin rassistische Argumentationen:
Die Reden von der Unvereinbarkeit von Islam und „westlicher Wertegemeinschaft“ ebenso wie die von den „Fluten“ südosteuropäischer „Armutsflüchtlinge“, vom „sozialen Sprengstoff“ und von „überforderten“ Kommunen folgen den bekannten Mustern. Deutsche Städte vermarkten sich zwar als „vielfältig“, doch in Zeiten leerer Kassen dominiert der Rassismus nach wie vor das Sprechen zahlreicher politisch Verantwortlicher und das Handeln der Verwaltungen.
Anstatt die immer weiter verwässerten Reformdebatten über den Verfassungsschutz und die sonstige „Sicherheitsarchitektur“ voran zu treiben, sollte die Konsequenz aus der Befassung mit dem „NSU-Komplex“ die Veränderung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse sein, die das Morden unterstützt haben. Dafür ist das Bekämpfen jener rassistischen, in erster Linie gegen Migrant_innen und Geflüchtete gerichteten Bedrohungsszenarien in der gesellschaftlichen Debatte, an die rechte Propaganda bestens anknüpfen kann, ein wichtiger, wenn auch nur ein kleiner Schritt.
Die großen Schritte, die aus der ersten Aufarbeitung der NSU-Morde folgen müssen, werden in der gesellschaftlichen Debatte nach wie vor praktisch nicht thematisiert. Dabei liegen sie (schon lange) auf der Hand: Seit über einem Jahr kämpfen Geflüchtete an vielen Orten in Deutschland gegen ihre Diskriminierung und artikulieren ihre Forderungen laut und deutlich. Mit großer Ausdauer fordern sie mit Protestcamps, Hungerstreiks und Protestmärschen Rechte und Anerkennung ein. Die Proteste in Deutschland sind Teil der Kämpfe für das Recht auf Bewegungsfreiheit und ein besseres Leben beiderseits der Grenzen der Europäischen Union. Und sie sind Kämpfe gegen den rassistischen Alltag, in dem sich die Menschen hier täglich zurechtfinden müssen. Diese Kämpfe verweisen einmal mehr darauf, dass die nationalstaatliche Schimäre der Kontrollierbarkeit der Migration weniger denn je real ist. Immer mehr Flüchtlinge kommen wieder in Deutschland an, unterlaufen die EU-Migrationskontroll-Architektur und nehmen ihre Immobilisierung weder an den Rändern Europas noch innerhalb der EU-Grenzen, etwa in Gestalt der deutschen Residenzpflicht, hin.
Diese Kämpfe sind die richtige Antwort auf das Ausblenden des gesellschaftlichen und staatlichen Rassismus, der auch in der sogenannten Aufarbeitung der NSU-Morde weiter besteht. Die jüngsten Entwicklungen und Debatten in Berlin, Duisburg und anderen deutschen Städten zeigen, dass sich das Problem bei weitem nicht auf Nazis und ein systematisches Versagen der Sicherheitsbehörden beschränkt. Das grundlegende Problem ist das allumfassende Prinzip der homogenen Nation, von dem sich Staat, Gesellschaft und Wirtschaft trotz der Sonntagsreden der „Vielfalt“ nach wie vor leiten lassen. Lassen wir es nicht mehr zu, dass Migration als Erklärung für die Strukturen sozialer Ungleichheit in dieser Gesellschaft herangezogen wird. Verteidigen wir das Recht auf Freizügigkeit in Europa und überall. Lassen wir es nicht mehr zu, dass nationalistische Logiken und ökonomische Kalküle bestimmen sollen, wer ein Recht auf Flucht und Migration hat.
Wir antworten dem alten, neuen Rassismus mit einem kosmopolitischen, den nationalen Albtraum hinter sich lassenden Verständnis von Gesellschaft, das die freie Mobilität aller und das Recht auf politische und soziale Teilhabe voraussetzt – unabhängig von Papieren und Status. Setzen wir unser Wissen, unsere Zusammenhänge und Ideen für ein System ein, das wirklich Schluss macht mit dem Rassismus. Solidarisieren wir uns mit den Kämpfen der Migration.
Netzwerk Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung