Mörderische Mediziner: Volker Roelcke über „die Väter der Marburger Kinder- und Jugendpsychiatrie“

Nach Kriegsende haben sie weitergemacht wie vorher. Über die „Väter der Marburger Kinder- und Jugendpsychiatrie“ sprach Prof. Dr. Volker Roelcke am Donnerstag (29. Juni) im Hörsaalgebäude der Philipps-Universität Marburg.
Sein Vortrag trug den Titel „Vererbung statt Trauma: Eugenisch motivierte Konzeptionen der jugendlichen Dissozialität bei Werner Villinger und Hermann Stutte bis und ab 1945“. Darin zeigte der Gießener Medizinhistoriker die Verstrickung der beiden Psychiater in die Nazi-Ideologie und deren Auswirkungen auf die bundesdeutsche Praxis des Umgangs mit verhaltensauffälligen Jugendlichen auf.
Acht Millionen Kinder und Jugendliche waren nach Angaben der Vereinten Nationen in Deutschland 1946 obdachlos. Doch in einem gemeinsamen Übersichtsartikel der beiden Psychiater spielten traumatische Erlebnisse durch die Auswirkungen von Krieg, Gewalt, Tod naher Angehöriger, Flucht und Vertreibung keine Rolle. Nur ein einziges Mal wurden sie mit dem Begriff „nationaler Zusammenbruch“ angedeutet, berichtete Roellcke.
Bis 1945 gehörte Villinger zu den 40 medizinischen Gutachtern des Projekts „T4“. Benannt war es nach der Tiergartenstraße 4 in Berlin. In diesem Haus organisierte das Nazi-Regime die Ermordung kranker und behinderter Menschen als angeblich „lebensunwertes Leben“.
Trotz seiner Mitwirkung an der Ermordung mehrerer hunderttausend Menschen wurde Villinger 1946 auf einen Lehrstuhl in Marburg berufen. Als Präsident der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater in den 50er Jahren genoss er hohes Ansehen. Zeitlebens leugnete er seine Mitwirkung am T4-Projekt, die aber durch Dokumente belegt ist.
Auch nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft erklärten Villinger und Stutte Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen weiterhin mit deren angeblicher „sozialbiologischer Unterwertigkeit“. In ihrem Aufsatz „Zeitgemäße Aufgaben und Probleme der Jugendfürsorge“ forderten sie 1948 die „Sichtung, Siebung und Lenkung dieses Strandgutes von jugendlichen Verwahrlosten“.
Ausgaben des Staates für eine sozialpädagogische Betreuung angeblich „erziehungsunfähiger“ Kinder und Jugendlicher hielten sie für Verschwendung. Den eugenischen Ansatz der NS-„Rassehygiene“ behielten sie ungebrochen bei. Debatten in anderen Ländern und noch während der 20er Jahre auch in Deutschland über Einflüsse der Umwelt sowie die Einbeziehung psychologischer Methoden und der Psychoanalyse in die Behandlung ignorierten beide bis in die 60er Jahre hinein weitgehend.
Bennoch prägten beide bis weit in die 70er Jahre ganz maßgeblich die Alltagspraxis des Umgangs mit Kindern und Jugendlichen in Heimen. Ausdrücke wie „Unterwertigkeit“ und vom angeblichen „Tatbestand der Unerziehbarkeit“ beeinflussten das Bewusstsein des Heimpersonals negativ. Ein brutaler Umgang des Personals in Heimen mit den „Zöglingen“ dort sei angesichts dessen nicht erstaunlich, deutete Roelcke an.
Villinger hatte Stutte für den ersten deutschen Lehrstuhl für Kinder- und Jugendpsychiatrie 1954 in Marburg vorgeschlagen. Gemeinsam mit ihm beteiligte er sich 1958 auch an der Gründung der Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind.
Die Bundesvereinigung Lebenshilfe (BVLH) benannte ihre Fortbildungsstätte in Marburg nach Stutte. Außerdem wurde er Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder und Jugendpsychiatrie sowie Präsident der Union Europäischer Pädopsychiater.
Beide waren auch in der Bundesrepublik hochangesehene Psychiater. In weiten Teilen entsprach die Praxis der Psyhiatrie aber auch ihren – von der Nazi-Eugenik geprägten – Vorstellungen.
Roelcke deutete das ungebrochene Fortwirken eugenischer Ansätze in der Medizin nach 1945 auch damit, dass mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht automatisch auch alle faschistischen Vorstellungen aus den Köpfen verschwunden seien. Aus dem Publikum kam zudem der Hinweis, dass mit dem Aufkommen des „Kalten Kriegs“ gegen Russland die Auseinandersetzung mit dem Faschismus nachrangig geworden sei. Roelcke fügte hinzu, dass Ärzte und Juristen direkt nach Kriegsende auch einfach gebraucht wurden, um die medizinische Versorgung und die staatliche Verwaltung aufrechtzuerhalten.
Dennoch könne er sich manches nicht erklären, resümierte Roelcke abschließend. Die moralische Reinwachung Stuttes durch seinen Nachfolger Prof. Dr. Helmut Remschmidt wird beim nächsten Vortrag am Donnerstag (13. August) Thema im Hörsaalgebäude sein. Die schreckliche Geschichte des Massenmords an behinderten menschen und die besondere Rolle Marburgs dabei ist noch lange nicht ausreichend aufgearbeitet.

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