Der tausendste Dammbruch: Demokratie braucht mehr Tiefgang

Noch ist Thomas Kämmerich im Amt. Am Donnerstag (6. Februar) hat der thüringische FDP-Landesvorsitzende seinen Rücktritt als Ministerpräsident nur angekündigt.
Kaum 24 Stunden vorher war der Friseur mit Stimmen von CDU und AfD zum Ministerpräsidenten von Thüringen gewählt worden. Das war ein „Dammbruch“, wie viele zu Recht feststellten. Deswegen waren die daraufhin einsetzende Empörung und das Entsetzen auch absolut berechtigt.
Der AfD ist es mit dieser Intrige nicht nur gelungen, den Spaltpilz in die CDU und die FDP hineinzutreiben, sondern diese Parteien zugleich auch in ihrer skrupellosen Machtgier vorzuführen. Während CDU und FDP damit dauerhaft beschädigt bleiben, kann sich die AfD als Gewinnerin dieses „Coups“ feiern. Letztlich hat sie damit auch die Parlamentarische Dem okratie als Institution vorgeführt, die ohne aufrechte Demokratinnen und Demokraten zu einer leeren Hülle ohne Wert für die Bevölkerung verkommt.
Allerdings sollte Klarheit herrschen darüber, dass die Wahl Kämmerichs zum Ministerpräsidenten von Thüringen durch die AfD des Faschisten Björn Höcke nur der traurige Tiefpunkt einer Entwicklung war, die leider lange zuvor bereits begonnen hat. Festzuhalten bleibt, dass die Beteuerungen vieler Politiker aus CDU, FDP und auch von SPD und Grünen anlässlich des 75. Jahrestags der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz solange leere Lippenbekenntnisse bleiben, wie diese Parteien an der Demokratie und den Freiheitsrechten sägen, Geheimdienste und Polizei mit immer mehr Macht ausstatten und rassistischer Menschenverachtung mit einer skrupellosen Abschottungspolitik gegen geflüchtete Menschen unter Inkaufnahme einer Stärkung rechter Hassprediger bereitwillig Vorschub leisten. Klare Kante gegen Rechts hieße zugleich auch Absage an einen Ausbau des Überwachungsstaats und an eine rassistische Abschottungspolitik gegen Asylsuchende.
Eine traurige Wahrheit bundesdeutscher Geschichte ist leider auch, dass die Nazis nach Kriegsende vielfach weiter wirken konnten in der Bonner Republik. „Furchtbare Juristen“ wie Hans-Karl Filbinger und Erich Schwinge oder der Nazi-Anwalt Eduard Dreher konnten Karriere machen als Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Hochschulprofessor an der Philipps-Universität Marburg und intriganter Autor heimlicher Amnestiegesetze im Bundesministerium der Justiz. Der Altnazi Reinhard Gehlen gründete den heutigen Bundesnachrichtendienst (BND) und bespitzelte den amtierenden Bundespräsidenten Gustav Heinemann.
Allzu eng waren die Verbindungen deutscher Politik mit dem Apartheid-Regime in Südafrika oder der blutrünstigen Diktatur des Augusto Pinochet in Chile. Viel zu lange hat es gedauert, bis nach den Juden auch Roma und Sinti sowie schließlich Behinderte und Schwule als Opfer des Hitler-Faschismus anerkannt worden sind. Für Kommunisten steht diese Rehabilitierung bis heute schändlicherweise immer noch aus.
Elemente faschistoider Ideologie haben sich nach wie vor behauptet in den Hirnen der Menschen. Behinderte wurden und werden weiterhin mit gnadenlosem Mitleid überzogen, das sie nicht als selbstbestimmte Menschen respektiert. Sogenannte „Landfahrerkarteien“ der Nazis dienten auch der Polizei in der Bundesrepublik weiterhin zur Ausgrenzung von Roma und Sinti.
Auch wenn gerade behinderte und schwule Menschen mittlerweile vieles zum Besseren hin verändert haben, bleibt doch die Schande einer immer noch fehlenden Verankerung dieser Errungenschaften bei vielen konservativen Zeitgnossen. Epilepsie und geistige Beeinträchtigungen gelten vielen nach wie vor als Makel, der die Betroffenen an der Wahrnehmung ihrer vollen Bürgerrechte behindere und wegen dem sie davon ausgeschlossen werden sollen. Offensive Homosexualität oder fordernder Gleichstellungsaktivismus sind manchen nach wie vor ein Dorn im rechten Auge.
Selbst die Gleichstellung der Geschlechter ist nicht voll verwirklicht. Spätestens in ihren Führungsetagen zeigen viele Unternehmen, wie wenig sie von echter Demokratie im Sinne der Gleichheit aller Menschen halten. Beim Raubbau an der Natur und der Missachtung notwendiger Forderungen zum Klimaschutz verhalten sich manche Konzerne ebenso gierig und skrupellos wie in den 30er und frühen 40er Jahren beim Einsatz von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern, der Produktion von Rüstngsgütern und Waffenoder dem Gas „Zyklon B“ für die Gaskammern von Birkenau, Hadamar und den vielen anderen NS-Vernichtungslagern.
Auch viele Medien halten den respekt vor der Würde aller Menschen nicht für ihre erste und die Aufklärung und Bildung der Bevölkerung für ihre zweite Hauptaufgabbe. Seichte Unterhaltung wäre ja noch hinnehmbar, aber Talkshows mit dem Rassisten Thilo Sarazin, dem Pegida-Gründer Lutz Bachmann und den hasserfüllten Hetzern der AfD haben „die Quote“ vor die gesellschaftliche Pflicht aller – auch privater – Medien zur wahrheitsgemäßen Berichterstattung gesetzt. Die Feinde der Wahrheit konnten ungestraft ihre Lügen und ihre Hetze verbreiten und so die AfD in die Landtage, den Deutschen Bundestag und zuletzt in die Rolle des „Königsmachers“ von Thüringen hieven.
Tatsächlich waren es hunderte von Dammbrüchen, die dem Dammbruch in Erfurt vorausgegangen sind. Alle diese Dammbrüche zu kitten, scheint kaum möglich zu sein. Durch die Poren der Haut dringt das geruchlose Gas in den Organismus ein, der Demokratie heißt und sich schon krümmt in einem qualvollen Todeskrampf.
Aber noch ist Deutschland nicht verloren. Tausende waren bereits am Abend des 5. Februar auf den Straßen, um gegen Kämmerich und die FDP zu demonstrieren. Groß ist der Ansehensverlust von CDU und FDP angesichts ihrer machtpolitischen Intrigen unter Zuhilfenahme einer dadurch aufgewerteten AfD.
Hinweise auf den Faschismus und sein Aufkommen in den 20er und 30er Jahren sind wichtig. Manche Parallelitäten wie beispielsweise die Wahl 1930 in Thüringen sind erschreckend. Dennoch hinken Vergleiche immer, weil die Shoa ein in seinen Ausmaßen nd seiner Brutalität einmaliges Ereignis war.
Dass der Holocaust einmalig bleibt, muss das gemeinsame Ziel aller demokratisch gesinnten Menschen sein. Keinen Platz für Antisemitismus und Rassismus zu bieten, bedarf einer menschenwürdigen Asylpolitik ebenso wie der Absage an mehr Überwachung und mehr macht für Geheimdienste. Alle Parteien müssen sich entscheiden, ob sie Macht auf Kostn der Freiheitsrechte erringen und gegen sie verteidigen wollen oder ob sie gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern sowie den zahlreichen Organisationen der sogenannten „Zivilgesellschaft an einem Ausbau der Demokratie arbeiten möchten.
Deutschland hat nicht nur die schlimme Tradition des Verschweigens faschistischer Geschichten und Geschichte, sondern auch die geschichtsbewusste und vorbildliche der 68er Bewegung und des Mauerfalls dank Millionen mutiger Menschen in der DDR. Schon 1969 wollte der damalige Bundeskanzler Willy Brandt „Mehr Demokratie wagen. Sein Motto ist heute wieder wichtiger als zuvor und möge allen als Mahnung dienen, sich für eine Zukunft ohne Antisemitismus und Rassismus in der Freiheit des aufgeklärten Geistes und der Solidarität mit Benachteiligten zu engagieren.

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