pm 16/98: Ein „lauschiges“ Jahr 1998 – Bürgerrechtsorganisation fordert Aufhebung des Lauschangriffs

Zum „lauschigsten Jahr“ seit Verabschiedung des Grundgesetzes erklärt der HU-Ortsverband Marburg das Jahr 1998. Nicht nur die Verabschiedung des „Großen Lauschangriffs“ fällt in das ablaufende Jahr; die Telefonüberwachung durch Staatsorgane habe – so die Humanistische Union – inzwischen „beängstigende Ausmaße“ angenommen. Die Bürgerrechtsorganisation hofft, daß die vor dem Bundesverfassungsgesetz anhängige Verfassungsklage „endlich zu einer Einschränkung der verfassungswidrigen Abhörpraxis von Polizei und Geheimdiensten führt“.
Grundgesetzartikel 10 schützt die Vertraulichkeit von Telefonaten, erklärt HU-Ortsvorsitzender Franz-Josef Hanke, doch scheine er „zu einem löchrigen Käse verkommen, der zudem unangenehmen Geruch verbreitet“. Demokratie erfordert nach Auffassung der Bürgerrechtsorganisation möglichst große Freiräume und nicht deren eilfertige Einschränkung zugunsten schnüffelnder Staatsorgane.
Der juristische Grundsatz „In dubio pro reo“ (Im Zweifelsfalle für den Angeklagten) muß nach Ansicht der Bürgerrechtler erst recht für die Freiheitsrechte gelten: Wer bei vermeintlich drohender Gefahr sofort die Freiheit einschränkt, der verursacht die allergrößte Gefahr, meint Hanke.
Die viel bemühte – angeblich überall grassierende – sogenannte „organisierte Kriminalität“ wird nach Einschätzung der Marburger Bürgerrechtler erst dadurch zu einer ernsthaften Gefahr für die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger, daß sie als Begründung für weitgehende Einschränkungen der Meinungs- und Redefreiheit sowie des Schutzes des Zeugnisverweigerungsrechtes und der Unverletzlichkeit der Wohnung herhalten muß. Der Begriff „Organisierte Kriminalität“ ist nicht definiert und wird in Berlin wesentlich großzügiger ausgelegt als beispielsweise beim Bundeskriminalamt.
Eins wissen selbst viele Betroffene nicht: Nach Artikel 13 Absatz 4 des im Frühjahr geänderten Grundgesetzes können auch Journalisten, Pfarrer, Ärzte oder Psychotherapeuten in ihrer Wohnung und ihren Arbeitsräumen abgehört werden, wenn „Gefahr im Verzug“ ist. In Ausnahmefällen kann dies dann sogar ohne richterliche Genehmigung geschehen.
„Verbrecher“ – so vermutet Hanke – „werden kriminogenen Mitteilungen dergestalt tarnen, daß niemand sie sofort entschlüsseln kann“. Deshalb hält der HU-Vorsitzende das Abhören generell für unnütz und schädlich. „Solcherlei Abhörmaßnahmen nützen allein den Ermittlern, die so ein gigantisches Arbeits-Beschaffungs-Programm auf Kosten der Bürgerrechte durchziehen.“
Auch die im ablaufenden Jahr diskutierte Telekommunikations-Überwachungs-Verordnung (TKÜV) hält Hanke für einen Ausdruck übersteigerter Polizei-Paranoia. Um sicherzugehen, daß vertrauliche E-Mails nicht gelesen werden, empfahl der schleswig-holsteinische Danteschutzbeauftragte die Nutzung sogenannter PGP-Programme zur Datenverschlüsselung und bietet sie auf seinen Internet -Seiten zum Downloaden an. „Es ist traurig, daß wir am Telefon oder über E-Mail nicht miteinander kommunizieren können, ohne sicher zu sein, daß niemand mithört“, klagt Hanke. „Besonders traurig ist jedoch, daß auch der im Oktober neugewählte Bundesinnenminister Otto Schily – einst Mitglied des Bundesvorstands der Humanistischen Union – seine eigenen Erfahrungen von Unterdrückung und Einschüchterung radikaldemokratischer Bürgerrechtler vergessen zu haben scheint“. Für 1999 hofft die Humanistische Union dennoch auf eine Änderung der Zusatzgesetze zum „Großen Lauschangriff“ und ein bürgerrechtsfreundliches Urteil des Bundesverfassungsgerichts.

Dragan Pavlovic

Über dp

Pressesprecher der HU Marburg

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