Für alle Menschen, denen der Kampf für soziale Gerechtigkeit ein zentrales Anliegen ist, für diejenigen, welche sich gegen den Abbau von Freiheitsrechten einsetzen und die den obersten Verfassungsgrundsatz des Schutzes der menschlichen Würde – der notwendigerweise auch die sozialen Existenzbedingungen mit einschließt – in der Praxis angewandt sehen wollen, für die Menschen, welche von der Forderung „wer nicht arbeitet, braucht auch nichts zu essen“ nichts halten, war die Teilnahme an der Tagung der Humanistischen Union (HU) im Stadtverordneten-Sitzungssaal eine Verpflichtung. Aufgrund der -während der Vorbereitung festgestellten- Anmeldungen musste der kleinere historische Rathaus-Saal gegen den Saal, in dem gewöhnlich die Stadtverordnetensitzungen stattfinden, vertauscht werden.
Mit mehr als einhundert Personen war der Saal mehr als nur gut besetzt. Selbst einige Mitglieder der Koalition aus der SPD-Fraktion und den Grünen waren vertreten. Ferner besuchten Mitglieder hessischer Erwerbslosen-Initiativen die Tagung, die von Marburg, Gießen, von der Bergstraße sowie von Kassel angereist waren.
Ist der Sozialstaat unbezahlbar?
Zur angeblichen Notwendigkeit von Einschnitten in die Sozialen Grundrechte
Die häufig beschworenen Sparzwänge und mögliche Alternativen zur derzeitigen neoliberalen Wirtschaftspolitik standen im Mittelpunkt des ersten Referats. Nach der weltweiten Wirtschaftskrise wird ein entschiedenes Umsteuern nicht nur aus ökologischen und sozialen Gründen für dringlich gehalten.
Das Einstiegsreferat zu angeblichen Sparzwängen und der daraus vielfach abgeleiteten Notwendigkeit von Einschnitten in die Sozialsysteme wurde entgegen der Ankündigung nicht von Rudolf Hickel (Uni Bremen), sondern von Kai Eicker-Wolf vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) gehalten. Er arbeitet beim DGB-Landesbezirk Hessen-Thüringen in Frankfurt.
Wer Kai kennt, der weiß, dass Statistiken zu seinem primären Handwerkszeugen zählen. So war es auch während dieser Tagung.
In Form einer Power-Point-Präsentation untersuchte Kai Eicker-Wolf unter anderem auch die durch die Steuerreform bedingten Einnahme-Ausfälle, die sich gegenwärtig auf zirka55 Milliarden Euro belaufen und voraussichtlich im Jahr 2011 auf 70 Milliarden Euro ansteigen werden. Bei den öffentlichen Investitionen ist Deutschland mit 1,5% des Bruttoinlandsproduktes (BIP) in der EU an vorletzter Stelle vor Österreich. Im Vergleich dazu stehen die USA mit 3,5 % wesentlich besser da.
Auch der Anteil öffentlicher Beschäftigung an der Gesamtbeschäftigung ist in Deutschland ständig zurückgegangen. Gegenwärtig nimmt Deutschland mit 14% den letzten Platz in der Europäischen Union (EU) ein. Im Vergleich dazu liegt die Öffentliche Beschäftigung in Dänemark bei 30%.
Im Niedriglohn-Bereich hat Deutschland die USA vom Spitzenplatz verdrängt und ist nun „Weltmeister“.
Die Grundrechte in der Praxis von SGB II und Hartz IV
Rechtsanwalt Dr. Peter Hauck-Scholz aus Marburg und der Berliner Sozialrichter Udo Geiger stellten die derzeitige Praxis von Hartz IV anhand von Beispielen vor. Dabei wurden auch Grundrechtsverstöße erörtert, die Menschen allein aufgrund des Bezugs staatlicher Transferleistungen erleiden.
Sozialleistungen sind Rechtsansprüche! Finanzielle Erwägungen spielen keine Rolle, so der Einstieg von Peter Hauck-Scholz in die juristische Materie des Spannungsfeldes zwischen Grundgesetz und Anwendung der Sozialgesetze.
Die Rechtsprechung des bundesverfassungsgerichts zu „Zahlenförmigen Rechtsnormen“ wurde in der Gesetzgebung nicht berücksichtigt. So sei das Zustandekommen der Regelsätze nicht nachvollziehbar. Infolgedessen wird das Bundesverfassungsgericht in Sachen SGB II / XII eine Grundsatzentscheidung treffen. Dabei ließ der Jurist durchblicken, dass er von der höchstrichterlichen Entscheidung, die am Dienstag (9. Februar) um 10 Uhr in Karlsruhe verkündet wird, mehr erwartet als nur eine Entscheidung in Sachen Regelsätze.
Antragsteller auf Transferleistungen aus dem SGB II sind Menschen zweiter Klasse, lautete eine weitere Aussage seiner Hauptthesen. Das gilt zumindest, wenn die Praxis der Verwaltung und der Behörden zugrunde gelegt wird. Allerdings widerspricht diese Tatsache dem Grundgesetz.
Die Ohnmacht vieler betroffener Menschen stört den sozialen Frieden. Das könne den Boden für Terrorismus bereiten helfen, warnte Hauck-Scholz.
Da das Existenzminimum das materielle, physische Leben absichert, aber wirkliche Teilhabe am soziokulturellen Leben ausblendet, sind die Augen der Juristen auch in dieser Hinsicht auf Karlsruhe gerichtet. Der Marburger Anwalt wies in diesem Zusammenhang explizit auf die Überprüfungsanträge für Bezugsberechtigte hin, die noch bis zum Tag vor der Urteilsverkündung gestellt werden können und auch rückwirkend Bedeutung haben können.
Ein Vorschlag von Hauck-Scholz war, ALLE 150.000 Rechtsanwälte Deutschlands aufzurufen, zwei Fälle aus dem „Bereich der „Beratungsscheine“ – also Sozialfälle – ehrenamtlich zu übernehmen, um etwas mehr Gerechtigkeit in die Praxis von Hartz IV hineinzubringen. Das wäre eine Art „juristischer Begleitservice“ in Sachen Sozialrecht.
Udo Geiger vom Sozialgericht Berlin bestätigte die grundrechtswidrige Praxis mancher Gerichte, wobei er auf die Vielschichtigkeit des Sanktionsapparates und dessen Folgen einging. Auch die Überlastung der Gerichte, die ungenauen Rechtsbegriffe des SGB, die Rechtsfortschreibung, die mittlerweile in die Gerichte verlagert wurde und nicht mehr beim Gesetzgeber geschieht, das dadurch zunehmende Fallrecht in der Sozialgesetzgebung führen immer mehr dazu, dass der Auftrag der Gerichte, Menschenrechtsverletzungen zu verhindern, nicht mehr erfüllt werden kann.
So ist das Recht auf Freizügigkeit erheblich eingeschränkt, da Transferleistungs-Bezieher kaum noch umziehen können. Geiger erwähnte mehrmals eine Äußerung von Knickrehm, dass Workfare und Disziplinierung Grundlage der gegenwärtigen Politik seien.
Während der Darlegungen des Richters am Berliner Sozialgericht wurde es merklich ruhiger in Saal. Die Spannung war beinahe greifbar, so gingen die Fall-Darstellungen dem Ein oder Anderen unter die Haut.
Hinweise zur HU-Tagung – Soziale Grundrechte
Wichtige juristische Tippps
Manuskripte von Referenten und Audio-Mitschnitte der Vorträge sind zu finden unter:
www.tagung.hu-marburg.de.
Der Marburger Anwalt Hauck-Scholz, der zu Grundrechtsfragen im Zusammenhang mit der Sozialgesetzgebung sprach, nahm in seinen Ausführungen zu interessanten Details Stellung:
1. Wird das Grundrecht auf Existenzsicherung durch eine zahlenförmige Rechtsnorm abgedeckt, ist der Verordnungsgeber dieser Rechtsnorm zur Darstellung über deren Zustandekommen verpflichtet. Dies ist auch auf den Gesetzgeber zu übertragen. Es ist der eigentliche Gegenstand der anhängigen BVerfG-Entscheidung zum Regelsatz.
2. Hauck-Scholz wies noch einmal auf den Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 (4) GG hin. Demnach ist auch jede Sozialbehörde verpflichtet, diesen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten. Er stellte anschaulich dar, dass davon in der aktuellen Praxis keine Rede sein kann.
3. Zudem stellte der Redner die Diskriminierungstendenzen der aktuellen Sozialgesetzgebung dar und analysierte zwei wesentliche Ursachen:
a) das SGB II selber, da es Techniken der Informationsbeschaffung enthält, die eine faktische Kriminalisierung bedeuten
und
b) das bürokratische Interesse an reibungsloser Umsetzung und Kostendämpfung.
Udo Geiger, Richter am SG Berlin und Verfasser des wichtigsten Ratgebers zum SGB II, sprach ebenfalls zu Grundrechtsfragen und realer Umsetzung:
1. Er wies besonders darauf hin, dass die Sanktionspraxis mit ihrer starren „drei-Monats-Strafe“ verfassungsrechtlich bedenklich ist. Beispiel: lehnt ein Erwerbsloser eine Eingliederungsmaßnahme ab, so wird er drei Monate sanktioniert, auch wenn er nach einem Monat sein Verhalten ändert. Dann mangelt es aber am Sanktionsziel.
2. Auf Nachfrage aus dem Publikum erläuterte er, unter welchen Bedingungen Ein-Euro-Jobs als Nachfolge von HzA -Maßnahmen rechtlich zulässig sind. Er stellte klar heraus: wird tatsächlich nutzbringende Arbeit in erheblichem Umfang geleistet, so ist das Ziel solcher Maßnahmen – eben die Wiedereingliederung besonders randständiger Personen – schon nicht mehr erfüllt.
3. Als verfassungsrechtlich besonders bedenklich wertete Geiger die Sonderregelungen für unter 25-Jährige und die 100-Prozent-Sanktion überhaupt. Er bezog sich dabei auf das Diskriminierungsverbot und die Mit-Betroffenheit von Familienangehörigen, die dabei sogar ihre Wohnung verlieren können.
4. Zudem erwähnte er noch einmal die bekannte Problematik der Stiefkinder-Regelung.
5. Auf den Einwand, die Leistungsträger mit Missbrauchsgebühren zum rechtstreuen Verhalten zu bewegen, wie das im Saarland Praxis ist, lehnte Geiger ab. Er verwies auf die Länder-Arbeitsgruppe, die Pauschgebühren für die Leistungsträger nach dem SGB II vorschlägt.
Beim Thema „Soziale Gerechtigkeit und soziale Grundrechte – eine positive Festlegung aus Sicht des Sozialethikers“ Friedhelm Hengsbach wäre ein eigener Exkurs in Sachen sozialphilosophischer Betrachtung und Reflexion vonnöten, der aber diesen Bericht sprengen würde. Deshalb hier nur die Erwähnung einer seiner Hauptthesen, dass Teilhabe und Beteiligung zwei grundverschiedene Dinge benennen.
Liegt der Beteiligung eine aktive Handlungsweise zugrunde, so ist die Teilhabe lediglich passiv erlebbar. Also ist demzufolge der Teilhabe am soziokulturellen Leben in der Gesellschaft das passive Element zuzuordnen, während eine Beteiligung daran, einen ganz anderen Stellenwert einnimmt. Wie wichtig die Sprache bei der Definition des Existenzminimums ist, zeigt sich darin, dass alleine schon durch diese Formulierung die Menschen, die davon betroffen sind, stigmatisiert werden.
Der Staatsrechtler Martin Kutscha aus Berlin erklärte manchem erstaunten Teilnehmer, dass das Grundgesetz nur als Übergangs-Verfassung konzipiert war. Deshalb wurde dort auch auf weitere Ausführungen zu Sozialen Grundrechten verzichtet.
Deshalb regelt das GG auch keine ausgewiesenen Rechte wie das auf Arbeit, Wohnung und Bildung. Allerdings sind diese durch das Völkerrecht gedeckt, da die Bundesrepublik den UN-Sozialpakt unterzeichnet hat. Nur wird diese Rechtslage derzeit missachtet. Soziale Grundrechte und Sozialstaat führen in der gegenwärtigen Rechtsprechung ein Schattendasein.
Mein Resümee ist, dass diese Veranstaltung im fünften Jahr der Hartz-IV-Gesetze, im „Agenda-Jahr 2010“ und im europäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung aus Sicht eines Juristen und Philosophen eine wahre Fundgrube gewesen sein musste. Wichtig ist meines Erachtens, dass diese Tagung als Teil vielfältiger Marburger Aktionen in diesem „denkwürdigen“ Jahr verstanden werden könnte.
Wie sagte es doch Franz-Josef Hanke sinngemäß zum Abschied: „Ich will euch trotz des heutigen Schneefalls nicht in die soziale Kälte entlassen, sondern euch als eine Art Flammenwerfer gegen die Armut zu Felde ziehen sehen.“
Bernd Hannemann