„Liebes Eichhörnchen, ich hoffe, dass wir heute Abend viel Gutes von dir erfahren werden!“ Mit diesen Worten eröffnete Franz-Josef Hanke am Dienstag (27. April) eine Veranstaltung der Humanistischen Union (HU) und des Zentrums für Konfliktforschung (ZfK) zur Frage „Wie weit darf Gewaltfreiheit gehen?“
Dazu begrüßte der zweite Vorsitzende des HU-Ortsverbands Marburg zwei Referenten im Hörsaalgebäude der Philipps-Universität. Zum einen referierte die aus Frankreich stammende Cecile Lecomte, zum anderen ihr Rechtsanwalt Tronje Döhmer.
Zunächst begann die französische Klettermeisterin Lecomte. Auf eine sehr kreative Weise protestiert sie gegen Atomkraft, Gentechnik und Umweltzerstörung. Sie versucht, durch das Klettern etwas zu bewirken.
So gelang es ihr auch, mehrere Atom-Züge zu stoppen. Außerdem hat sie erreicht, dass seit Ende 2009 Uran nicht mehr von Deutschland nach Russland transportiert wird.
Hauptberuflich ist sie „Bewegungsarbeiterin“ bei der „Bewegungsstiftung“. Sie hält Vorträge und ist aktiv, indem sie klettert.
Während eines Atomtransports hing sie kopfunter über Bahngleisen. Nach einem Strafprozess gegen einen „Genfeld-Befreier“ kletterte sie an einem Gerichtsgebäude nach oben und schrieb mit wasserlöslicher Kreide eine Parole gegen Gentechnik an die Wand.
Sie will ein Zeichen gegen Atomkraft und viele andere Großtechnologien setzen. Sie will die Öffentlichkeit aufrütteln.
„Jeder sollte seine Fähigkeiten gut einsetzen“, erklärte sie dazu. „Ein Schlüssel zum Erfolg ist, dass man Kreativität dort antrifft, wo man sie nicht erwartet.“
Nach einer Besetzung bei einem der Castor-Transporte wurde sie als einzige für vier Tage „in Gewahrsam genommen“. Sie berichtete über menschenunwürdige Haftbedingungen während dieser Zeit. „Wegen dieser vier Tage bin ich an einer posttraumatischen Belastungsstörung erkrankt“, klagte sie.
Die Behörden schätzen sie sogar für so „gefährlich“ ein, dass man ihr zutraut, ohne Kletter-Ausrüstung zu klettern. „Ich weiß zwar nicht, wie das gehen soll, aber es wurde gerichtlich so beschlossen. Dann kann ich eben fünf Meter hoch springen und ohne Ausrüstung klettern.“
Für wie gefährlich Lecomte eingeschätzt wird, drückt auch noch einmal aus, dass sie zwei Jahre von der Polizei Tag und Nacht überwacht wurde. Es gab auch absurde Vorwürfe gegen sie.
Immer wieder wird sie „vorsorglich“ in Gewahrsam genommen, wenn Castoren unterwegs sind oder andere Demonstrationen erwartet werden. „Die Polizei hatte es so eilig, mich festzunehmen, dass ein Polizist aus einem Wagen fiel und überfahren wurde. Mir wurde dann Körperverletzung vorgeworfen.“
Doch gegen solche rechtswidrigen Beschlüsse und Entscheidungen konnte sie vor Gericht schon einige Erfolge erzielen. Eine Verhandlung wurde vertagt, weil Lecomte eine Richterin in der Verhandlung mit ihren Argumenten in Grund und Boden redete. In anderen Verfahren wurde sie freigesprochen.
„Ich bin nicht das Problem, das Problem sind die Umstände!“ Mit diesen Worten beendete sie ihren Vortrag. Es folgte tosender Beifall der rund 40 Zuhörer.
„Gibt es Jemanden hier im Saal, der Frau Lecomte für gefährlich hält?“ Mit dieser Frage begann Lecomtes Rechtsanwalt Döhmer seinen Vortrag. Er berichtete über eine Reihe unterschiedlicher Fälle, in denen die Polizei wiederholt rechtswidrig gegen Lecomte und andere Umwelt-Aktivisten vorgegangen war.
„Es gibt sicherlich Fälle, wo man Menschen in Gewahrsam nehmen muss; doch hier ist das ganz und gar nicht der Fall“, sagte er.
Besonders bestürzend war sein Bericht über eine Gerichtsverhandlung, bei der Lecomte an der Wand nach oben kletterte und etwas mit wasserlöslicher Kreide dort aufmalte. Anschließend wollte man sie „in Gewahrsam nehmen“.
Der Gerichtspräsident habe das angeordnet, begründeten die Polizisten diese Maßnahme damals gegenüber Döhmer. Der Gerichtspräsident ist jedoch nicht der „gesetzliche Richter“ gemäß dem Grundgesetz. Deswegen darf er derartige Maßnahmen gar nicht anordnen. Nur der zuständige Haftrichter hätte diese Anordnung treffen dürfen.
Nach Döhmers Protest dagegen behauptete die Polizei, die Haftrichterin habe die Ingewahrsamnahme von Lecomte mündlich angeordnet. Doch ohne Anhörung der Betroffenen darf niemand eine längere Festnahme verfügen. Außerdem muss diese Anordnung schriftlich erfolgen.
So kam es, dass Lecomte einen Tag widerrechtlich in Haft saß. Die Rechtswidrigkeit dieser und anderer Maßnahmen wurde inzwischen von Gerichten festgestellt.
Nach dieser Schilderung stellte Döhmer die provokative Frage, ob man die Verstöße des Staates im Fall Lecomte mit der Situation im Dritten Reich vergleichen kann. Anschließend argumentierte er in beide Richtungen.
Tatsächlich zog er einige frappierende Parallelen zum Nationalsozialismus. Doch es gibt immer noch zahlreiche Unterschiede.
„Ich mache mir sehr große Sorgen, denn es scheint darauf hinauszulaufen, dass man in naher Zukunft nicht mehr viel gegen rechtswidrige Festnahmen unternehmen kann“, äußerte Döhmer seine Bedenken gegen den Wegfall bisheriger Instanzen zur Überprüfung derartiger Maßnahmen.
Angesichts ausbleibender Konsequenzen für diejenigen, die solche Maßnahmen angeordnet haben, forderte der Rechtsanwalt: „Das mit der ingewahrsamnahme und der anschließenden Praxis der Gerichte muss dringend verändert werden!“
Dann band er auch die Anwesenden ein, denn er begann eine Diskussion über Deutschland als Rechtsstaat und die Demokratie.
Sein Schlusswort lautete: „Sie sind die Öffentlichkeit. Kontrollieren sie die Justiz. Und da bin auch ich nicht ausgenommen.“
Kevin Barth