„Sozialpolitik: Die Sozial- und Arbeitsmarkt-Politik der Hessischen Landesregierung“ stand am Montag (27. November) auf dem Programm der Veranstaltungsreihe „Hessen hinten! Sieben Jahre hessische CDU an der Macht – eine kritische Bilanz“. Vor gut 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmern sprach der Sozialethiker Prof. Dr. Franz Segbers vom Diakonischen Werk Hessen und Nassau im Kulturladen KFZ.
Der evangelische Theologe begann seinen Vortrag mit einem Zitat: Er las den vollständigen Text des Artikels 38 der hessischen Landesverfassung vor. Die 1946 beschlossene Verfassung verpflichtet alle wirtschaftlichen Tätigkeiten auf das Gemeinwohl. Sie fordert eine gerechte Verteilung der Güter und des Reichtums ein.
Dagegen verstoße die hessische Landesregierung unter dem CDU-Ministerpräsidenten Roland Koch auf eklatante Weise: In vorderster Front kämpfe sie dafür, den bisherigen „Aktiven Sozialstaat“ in einen angeblich „Aktivierenden Sozialstaat“ umzugestalten. Tatsächlich verwandele sich dadurch der Sozial- und Wohlfahrtsstaat in einen Wohltätigkeitsstaat.
Statt eines Rechts der Bürgerinnen und Bürger auf Sozialleistungen sowie auf die Sicherung ihrer materiellen Existenzgrundlagen mache dieser Staat die Sozialleistungen von Gegenleistungen abhängig. Den Rechten der Menschen werden angebliche Pflichten als Bedingung gegenübergestellt.
Das dahinterstehende Konzept sei eines, das Leistungen des Staates zunächst denjenigen anbiete, die sie einkaufen können. Sei jemand dazu aus finanziellen Gründen nicht imstande, dann gewähre man ihm großzügig die Möglichkeit, einzelne Leistungen auch über die mildtätige Spende dritter oder Auffang-Systeme des Staates zu erhalten. Das sei dann aber immer nur eine sehr rudimentäre Versorgung.
Argument für den Abbau des Sozialstaats seien die vielzitierten „leeren Kassen“ der öffentlichen Haushalte. Diese Finanz-Situation hätten aber Koch und andere Landes- oder Bundesregierungen selbst herbeigeführt, indem sie die Spitzensteuer-Sätze gesenkt, die Unternehmens-Besteuerung verringert und damit die öffentlichen Einnahmen bewusst verknappt haben. Dieses Vorgehen sei ein gezielter Coup gewesen, um dann hinterher die Staatsausgaben senken zu müssen, meinte Segbers.
Durch diese Politik sei der Sozialstaat zu einem Wettbewerbs-Staat umgestaltet worden. Mit Verweis auf die „Globalisierung“ würden die Steuern für die Reichen und die Löhne der Beschäftigten immer weiter nach unten gedrückt.
Bei dieser Entwicklung habe Roland Koch eine bundesweite Vorreiterrolle ausgefüllt. Er sei in den US-Bundesstaat Wisconsin gereist und mit diesem Konzept von dort zurückgekehrt. Anschließend habe er die damalige rot-grüne Bundesregierung mit öffentlichen Vorstößen, stammtisch-fähigen Parolen und Gesetzes-Initiativen im Bundesrat vor sich her getrieben. Ergebnis dieses strategischen Vorgehens seien die Einsetzung der sogenannten „Hartz-Kommission“ und ihre vier Gesetzes-Initiativen gewesen.
Mit seiner „Operation sichere Zukunft“ habe Koch zudem die Landes-Gelder für Frauenhäuser, Schuldnerberatung und Obdachlosen-Arbeit zusammengestrichen. Diese Kürzungen seien umso schlimmer, als viele der betroffenen Projekte danach auch keine Komplementär-Mittel aus anderen Töpfen mehr erhalten konnten. Das Frauenhaus in Hanau habe nur überlebt, weil ein privater Trägerverein seine Finanzierung übernommen hat.
Mit dieser Spar-Aktion habe die Landesregierung in alt-obrigkeitsstaatlicher Manier allein entschieden, wofür der Staat Geld hat und wofür nicht. Viele Projekte seien vermutlich nur deswegen durchgefallen, weil dem Ministerpräsidenten ihre Richtung nicht gepasst habe.
Dagegen betonte Segbers die unbedingte Notwendigkeit einer „basalen Sozialen Sicherung“ als Voraussetzung für die demokratische Beteiligung aller Menschen am gesellschaftlichen und kulturellen Leben. Die Solidarität der Gesellschaft mit jedem, der in Not geraten ist, sei in einem demokratischen Gemeinwesen unverzichtbar. Gerade sie aber werde durch Konzepte wie „fördern und fordern“ in Frage gestellt.
Das Vorgehen Kochs betrachtet Segbers als flagranten Verfassungsbruch. Ebenso wie bei der Einführung von Studiengebühren schere er sich auch bei der Sozialpolitik nicht um die verfassungsmäßig verbrieften Rechte der Menschen.
Der von ihm propagierte „schlanke Stat“ setze dagegen auf den Zwang, Arbeit um jeden Preis – auch zu Niedrigst-Löhnen – anzunehmen. Koch sei seit Jahren ein Befürworter von Kombilohn-Modellen, bei denen der Staat die Absenkung des Lohn-Niveaus durch öffentliche Zuschüsse an die verarmenden Erwerbstätigen unterstützt.
Den Erfolg seiner Bestrebungen belegen die jüngsten Zahlen des KreisJobCenters (KJC). Danach ist zwar die Arbeitslosigkeit im Landkreis Marburg-Biedenkopf gesunken; gleichzeitig steigt aber die Zahl derjenigen dramatisch an, die sich trotz einer vollen Arbeitsstelle von ihrem Einkommen nicht mehr hinreichend ernähren können!
Diese Entwicklung bezeichnete Segbers als „Skandal“. Er forderte die Anwesenden auf, für ihre – in der Verfassung verbrieften – Sozialen Rechte einzutreten. Den Artikel 20 des Grundgesetzes wie auch den Artikel 38 der hessischen Landesverfassung müsse die Bevölkerung wieder mit Leben füllen!
Franz-Josef Hanke