Als „bedeutsamen Tag in der deutschen Rechtsgeschichte“ hat Dr. Burkhard Hirsch den 10. Februar 2009 bezeichnet. Genau an diesem Tag referierte der FDP-Politiker unter dem Titel „Der (un)heimliche Staat“ über die zunehmenden Einschränkungen der Freiheitsrechte im Zuge der Terrorismus-Bekämpfung.
Den ehemaligen nordrhein-westfälischen Innenminister und früheren Vizepräsidenten des Deutschen Bundestags nach Marburg eingeladen hatte der HU-Ortsverband Marburg. Gut 80 Interessierte lauschten seinem Vortrag im vollbesetzten Historischen Saal des Rathauses.
Zwei aktuelle Ereignisse griff Hirsch zu Beginn auf: Der Europäische Gerichtshof (EUGH) hatte am Dienstag (10. Februar) die umstrittene EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung passieren lassen. Gleichzeitig fand vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe eine zweitägige Anhörung zum Lissaboner vertrag statt.
Mit diesem Vertragswerk werde die Europäische Union (EU) zu einem Staat, wenngleich sie diesen Eindruck tunlichst zu vermeiden trachte. Damit würde tief in die verfassungsmäßig verbrieften Rechte der Bürgerinnen und Bürger eingegriffen, kritisierte Hirsch.
Beispielsweise sehe der Lissaboner Vertrag die Möglichkeit eines Einsatzes von Militär im Innern ohne parlamentarische Zustimmung vor, erläuterte der promovierte Jurist. Wichtige Gesetzgebungskompetenzen gingen an die EU über. Insbesondere die EU-Kommission und der Ministerrat würden dadurch gestärkt, während das EU-Parlament auch künftig kein Initiativrecht besitze.
Ein schwerwiegender Eingriff in die Bürgerrechte ist nach Hirschs Überzeugung auch die seit dem 1. Januar 2009 vorgeschriebene Vorratsdatenspeicherung. Dagegen hatte er ebenso wie die Humanistische Union (HU) Klage vor dem Bundesverfassungsgericht erhoben.
Mit dem Spruch des EUGH zur Vorratsdatenspeicherung werde die Aussicht nicht gerade größer, diese Verfassungsbeschwerde erfolgreich zu führen. Der EUGH hatte die Richtlinie mit der Begründung akzeptiert, sie behandle nur die Verpflichtung von Telefon- und Internet-Providern, alle Kommunikationsdaten mindestens ein halbes Jahr lang aufzuheben. Was in den einzelnen Ländern hinterher mit diesen Daten geschehe, sei nicht darin geregelt.
„Das Gericht hat sich einfach für den Schutz der Grundrechte nicht zuständig erklärt“, kritisierte Hirsch. Dabei verstoße diese Richtlinie seiner Ansicht nach sogar gegen die europäische Grundrechte-Charta und die Europäische Menschenrechts-Konvention (EMRK), da sie ausnahmslos alle Menschen unter Generalverdacht stelle.
Die lückenlose Speicherung aller Verbindungsdaten von Telefon- und Kommunikationsdiensten hält Hirsch aber nicht für notwendig. Beispielsweise die Begründung, damit könne Kinderpornografie besser bekämpft werden, zieht seiner Ansicht nach nicht. In diesem Bereich habe die Aufklärungsquote in den Jahren 2006 und 2007 auch ohne Vorratsdatenspeicherung nach amtlichen Statistiken des Bundesinnenministers schon bei 93 Prozent gelegen.
Auch ohne die Vorratsdatenspeicherung sei Deutschland schon weltmeister in der Telefon-Überwachung. Jährlichen Zuwachsraten von 25 Prozent stünden dabei allerdings keine merklichen Zuwachsraten bei der Aufklärung von Verbrechen gegenüber.
Zudem werden Abgehörte nach einer Studie des Max-Planck-Instituts (MPI) in Freiburg nur in 27 Prozent aller Fälle nachträglich über diesen Vorgang informiert, obgleich diese Information nach dem Gesetz nur in Ausnahmefällen unterbleiben darf. In Auftrag gegeben hatte diese Untersuchung pikanterweise das Bundesjustizministerium (BMJ).
Insgesamt konstatierte Hirsch einen nachlässigen Umgang der Politik mit dem Grundgesetz. Das belegen auch diejenigen Fälle, bei denen er gemeinsam mit anderen Beschwerdeführern vor dem Bundesverfassungsgericht erfolgreich gegen Gesetze zur „Inneren Sicherheit“ vorgegangen war. Dennoch missachte die Politik auch weiterhin die Verfassung und ebenso auch die entsprechenden Sprüche der Karlsruher Richter.
„Es kann nicht sein, dass der Gesetzgeber die Dehnbarkeit der Verfassung austestet und es einzelnen Beschwerdeführern überlässt, dagegen zu klagen“, empörte sich Hirsch. Vielmehr sei der Schutz der Verfassung originäre Aufgabe von Regierung und Parlament.
Politiker glaubten aber, sie müssten terroristische oder kriminelle Akte möglichst unterbinden. Im Falle von Attentaten oder schlimmen Verbrechen fürchteten sie den Volkszorn über ihre angelich „zu lässige“ Haltung. Deswegen neigten sie zu gesetzlichen Regelungen, die die Bekämpfung von Verbrechen höher bewerten als die Grundrechte der Bürger.
Immer mehr entwickle sich Deutschland so zu einem „Präventionsstaat“. Vier Entwicklungen skizzierte Hirsch, die traditionelle Grundüberzeugungen mehr und mehr aufweichten.
Ermittlungen würden ins Vorfeld verlagert, damit Verbrechen erst gar nicht geschehen. Vage Verdachtsmomente führten dann bereits zu polizeilichem Handeln. Verdächtigt werde jeder, der nach polizeilicher Vorstellung künftig ein Verbrechen begehen könnte.
Aber auch unverdächtige Bürgerinnen und Bürger würden zunehmend zum Objekt staatlicher Überwachung. Im Endeffekt werde jeder als potentieller Verbrecher behandelt.
Eine weitere Tendenz seien Überlegungen eines sogenannten „Feindstrafrechts“. Feinde der Freiheit stünden demnach außerhalb der Rechtsordnung. Sie könnten sich nicht auf irgendwelche Rechte berufen.
Als letzten Punkt nannte Hirsch in diesem Zusammenhang einen ignoranten Umgang mit Ausländern. Ihre Rechte würden noch mehr beschnitten als die inländischer Bürger. Als Beispiel dafür führte Hirsch die Schleierfahndung nach dem 11. September 2001 an, bei der Tausende junger Muslime durchleuchtet wurden, ohne dass eine konkrete Verdächtigung dabei bekannt geworden wäre.
Gerade ein rücksichtsloser Umgang, wie ihn beispielsweise die amerikanische Bush-Administration in Guantanamo praktiziert hat, treibe Menschen in der islamischen Welt aber in die Arme islamistischer Kreise, warnte Hirsch. Hier hoffe er nun auf den neuen US-Präsidenten Barack Obama.
Freiheit sei das beste Mittel zum Schutz vor Terrorismus, meinte Hirsch. Wer erkläre, er habe nichts zu verbergen, der betreibe politische Zechprellerei: Er gebe Andere der Überwachung preis, um seine eigene Sicherheit auf ihre Kosten zu erkaufen.
Wegen der zunehmenden Einschränkung von Freiheitsrechten sei er als junger Mann von Halle an der Saale in den Westen nach Marburg geflohen, berichtete Hirsch. Hier habe er sich immer für eine liberale Politik engagiert. Mehr und mehr müsse er nun jedoch erleben, wie Grundrechte eingeschränkt werden und staatliche Überwachung ausgeweitet wird.
Franz-Josef Hanke