Als „Rückfall in das Mittelalter“ betrachtet die Humanistische Union (HU) die neue Kronzeugen-Regelung. Der Deutsche Bundestag hat die Änderung der Strafprozessordnung (StPO) bereits verabschiedet. Noch ist sie aber nicht in Kraft.
Die Gesetzesänderung gesteht Straftätern Erleichterungen bis hin zur Straffreiheit zu, wenn sie vor Gericht gegen andere aussagen. Angesichts der Verlockungen durch diese möglichen Vergünstigungen zweifelt der HU-Arbeitskreis „Justizreform“ den Wert derartiger Zeugenaussagen allerdings an.
Aussagen von Zeugen gelten ohnehin als sehr unzuverlässige Beweismittel. Erst recht gilt das nach Auffassung des HU-Ortsverbands Marburg für Zeugen, die selbst Straftäter sind. Sie haben ein offensichtliches Motiv auch für eine Falschaussage.
Durch ihre Aussage als Kronzeuge können sich Straftäter eigene Vorteile verschaffen. Damit wird die Zahl von Fehlurteilen nach Überzeugung der HU weiter steigen. Der Arbeitskreis „Justizreform“ des HU-Ortsverbands Marburg hat sich deswegen bei seiner Sitzung am Samstag (30. Mai) einmütig gegen Kronzeugen-Regelungen ausgesprochen.
Eine ähnliche Regelung war bereits nach dem sogenannten „Deutschen Herbst“ in die Strafprozessordnung eingefügt worden. Damals galt sie allerdings nur in Fällen terroristischer Straftaten. Auch hatte der Gesetzgeber ihre Gültigkeit damals vorsichtshalber zeitlich begrenzt.
Nach ihrem Auslaufen hatte der Bundestag diese Regelung nicht weiter verlängert. Sie sei so selten angewandt worden, dass ihre Notwendigkeit nicht belegt werden könne, hieß es seinerzeit zur Begründung. Dennoch hat der Bundestag diese dubiose Regelung nun wieder in Kraft gesetzt und sogar noch massiv ausgeweitet.
In dieser Kronzeugen-Regelung sieht der Marburger HU-Arbeitskreis die Gefahr einer Umgehung der Unschuldsvermutung. Als unschuldig muss in einem demokratischen Rechtssystem jeder gelten, dem eine Straftat nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden kann.
„Durch den Köder von Strafverkürzung oder garvölliger Straffreiheit aber können Strafverfolgungsbehörden mit Hilfe der Kronzeugen-Regelung künftig Zeugenaussagen regelrecht eintauschen“, erläuterte Franz-Josef Hanke. Der 2. Vorsitzende des HU-Ortsverbands Marburg hält derartige Deals für noch gefährlicher als die am Donnerstag (28. Mai) vom Bundestag verabschiedete Änderung der StPO, wonach „Deals“ zwischen Staatsanwaltschaft und Verteidigung rechtlich geregelt werden. Aufgrund dieser mißglückten
Regelung droht Bürgern, die einer Straftat bezichtigt werden, ein zumindest mittelbarer Zwang zur Ablegung von – gegebenenfalls auch unrichtigen – Geständnissen, was dem in der Europäischen Menschenrechts-Konvention (EMRK) verbrieften Schweigerecht widerspricht.
„Die Strafverfahren werden durch derartige Gesetze zwar für die Justiz immer effizienter führbar“, stellte Hanke fest. „Die Freiheitsrechte der Beschuldigten werden dafür aber immer weiter eingeschränkt. Wem als Beschuldigtem für eine Aussage Vergünstigungen winken, der lügt sich möglicherweise auch in die Freiheit. Eine wirksame Verteidigung wird durch Gesetze wie diese immer schwerer.“
Franz-Josef Hanke