„Da stehen ja fünf Polizisten!“ Erstaunt beschreibt mir mein Bekannter die Szenerie vor dem Marburger Hauptbahnhof. Dort möchte ich um 9.35 Uhr den Zug nach Gießen nehmen.
Eine Demonstration von Neonazis war für Samstag (16. Juli) in Gießen angekündigt worden. Dagegen richteten sich Veranstaltungen gleich mehrerer Aktionsbündnisse mit Namen wie „Gießen bleibt bunt“ oder „Gießen bleibt nazifrei“.
Die Beamten neben mir halten ein Schwätzchen. Eine von ihnen ist eine junge Frau. Anscheinend ist sie die „Henne im Korb“.
Zwischendurch fotografieren die Polizisten einzelne Passanten oder machen einander auf bestimmte Personen aufmerksam. Offenbar schätzen sie diese Leute danach ein, ob sie vielleicht Demonstranten sind und ob sie Neonazis oder Antifaschisten sind.
Mich lassen sie völlig unbeachtet. Allmählich immer ungeduldiger werdend, warte ich auf meinen Begleiter für die Fahrt nach Gießen.
Derweil spricht jemand einen Mann links von mir an, der dort mit einer Frau ebenfalls auf der Treppe steht. Er erklärt, er kläre im Vorfeld auf, mit wie vielen Demonstranten welcher Couleur man in Gießen rechnen müsse.
Mein Begleiter kommt genau um 9.30 Uhr. Er geleitet mich zum Bahnsteig.
Am Gleis 4 Richtung Frankfurt knäueln sich die Passagiere. Auf dem Bahnsteig und im Tunnel stehen ebenfalls Polizisten.
„Sie sehen ziemlich martialisch aus“, meint mein Begleiter. Die Leute links neben mir auf der Treppe vor dem Eingang des Marburger Hauptbahnhofs hatte er übrigens nicht als Polizisten erkannt. Offenbar waren sie in Zivil.
Mit sechs Minuten Verspätung rollt der Zug nach Frankfurt auf Gleis 4 in den Marburger Hauptbahnhof ein. Es dauert, bis die Massen alle eingestiegen sind und der Zug weiterfahren kann.
Im Oberdeck eines Doppelstock-Waggons finden wir sogar noch Sitzplätze. Andere müssen sich mit Treppenstufen begnügen. Aber die Fahrt nach Gießen dauert ja nicht viel mehr als eine Viertelstunde.
Auf den beiden Bahnsteigen des Haltepunkts „Gießen-Oswaldsgarten“ stehen mindestens 50 Uniformierte in Kampfanzügen. Bei der Weiterfahrt nach Süden fährt der Regionalexpress an einer Reihe von vielleicht 50 Kleinbussen der Polizei vorbei, bevor der Zug in den Gießener Hauptbahnhof aussteigt.
In Gießen wollen wir durch den Tunnel zum Gleis 1 gehen, von wo aus man die Bahnhofshalle erreicht. Doch die Treppe dorthin ist von einer Polizeikette gesperrt. Über Gleis 11 erreichen wir die andere Seite des Gebäudes.
Auch dort stehen Dutzende von Uniformierten. Das gesamte Gebäude ist offenbar völlig gesperrt. Die Reisenden werden an der Halle vorbei über einen kleinen Nebenausgang zum Bahnhofsvorplatz geleitet.
Dort müssen wir durch eine Kontrollstelle der Polizei hindurch. Untersucht werden wir aber nicht. Über die Brücke, die gleich rechts vom Bahnhofsvorplatz aus über die Gleise 11 bis 16 führt, erreichen wir ohne weitere Probleme unseren Kundgebungsort.
Von 10 bis 14 Uhr will die Humanistische Union Marburg (HU) an der Ecke des Alten Wetzlarer Wegs und der Friedrichstraße gegen den Nazi-Aufmarsch protestieren. Mit einem eigenen Aufruf hat die Bürgerrechtsorganisation zu friedlichen Aktionen und Blockaden gegen die Nazis aufgefordert.
An unserem Kundgebungsort direkt hinter der Brücke steht ein gutes Dutzend Polizisten. Auf dem Platz dahinter warten sieben oder acht Kleinbusse der Polizei sowie ein normaler Streifenwagen.
Etwa fünf Demonstranten haben offenbar auf uns gewartet. Eine Viertelstunde, nachdem wir mit unseren Flugblättern Aufstellung genommen haben, ziehen sie weiter. Die Polizisten nehmen uns neutral zur Kenntnis.
Funkgeräte piepsen und rauschen. Zwischen das Stimmengewirr micht sich mitunter auch einmal die Stimme eines Polizisten, der an der Brücke steht.
Das Knurren eines Polizeihunds flößt mir Furcht ein. „Der hat einen Maulkorb“, beruhigt mich mein Begleiter.
Gleich zwei Polizei-Hubschrauber kreisen in der Luft. Der eine scheint direkt über dem Westen Gießens zu kreisen, während der andere sich mehr über dem Süden hin und her bewegt. Sprechchöre ertönen. Mein Begleiter schaut nach. „Antifa“, erläutert er.
Auch die Polizisten werden aktiv. Ihre Zahl hat sich zwischenzeitlich auf gut 20 erhöht.
Nachdem die etwa 100-köpfige Gruppe die Bahnhofstraße hinauf in die Innenstadt gezogen ist, tritt wieder Ruhe ein. Wir stehen in der Sonne und verteilen einige unserer Flugblätter.
Noch einmal kommt Bewegung in die Szenerie. Eine weitere Gruppe von Gegendemonstranten hat den Gießener Hauptbahnhof verlassen und möchte über die Bahnhofstraße zur Innenstadt ziehen.
Wieder schaut mein Begleiter von der Brücke aus nach, wie viele es sind. Auch dieses Mal seien es etwa 100 Menschen, schätzt er. Ebenso wie die Gruppe vorher sind auch sie größtenteils bunt gekleidet.
Eine Lautsprecherdurchsage der Polizei bittet die Demonstranten um Verständnis, dass es „einige Minuten“ dauern werde, „bis Ihr weitergehen könnt“ Etwa eine Minute später wiederholt eine andere Stimme die gleiche Aussage noch einmal.
Mir scheint, dem zweiten Polizisten ist die Situation peinlich. Sein Tonfall wirkt zugleich entschuldigend und bedauernd. Fast hat er auch etwas Beschwörendes.
Aus der Gruppe heraus ertönen einige Rufe. Danach kehrt wieder Ruhe ein.
Dann stehen wir stundenlang in der Sonne. Passanten gehen vorbei, ohne uns allerdings allzu viele Flugblätter abzunehmen. Die meisten scheinen nur froh, der unangenehmen Situation rund um den Gießener Hauptbahnhof möglichst schnell entronnen zu sein.
Ein Polizist beschreibt per Funk einige vorbeigehende Passanten: „Sie sehen aus wie Nazis, scheinen aber eher Linke zu sein.“
Aus einer Unterhaltung zweier Polizisten schnappe ich einige kleine Versatzstücke auf. Einer beschreibt die Gruppen der Demonstrierenden als „Nationale“ und „Linksfaschisten“. Ob er der einen Gruppe wohl ideologisch näher steht als der anderen?
Gegen 11 Uhr ziehen die Polizisten größtenteils ab. Zwei Polizeihunde verlassen den Platz hinter der Brücke ebenso wie etwa fünf Kleinbusse. Zudem steigt ein Uniformierter mit quäkendem Funkgerät in einen größeren Van mit Hochdach ein, der seitlich außer Fahrer- und Beifahrerfenster keine Scheiben hat. Nur durch ein Blaulicht auf dem Dach ist dieser Wagen als Polizeiauto erkennbar.
Wahrscheinlich ist das eine rollende Einsatzleitstelle, vermuten wir. Jedenfalls kehrt jetzt Ruhe ein auf der Brücke.
Vielleicht fünf Beamte sind geblieben. Gelangweilt stehen sie sich auf der Brücke die Beine in den Bauch. In zwei oder drei Polizeiautos auf dem Platz sitzen allerdings noch einige Kollegen von ihnen in Wartestellung.
Unser dritter Mann kommt. Im asiatischen Imbiss gegenüber holen wir uns Kaffee.
Die Sonne erhitzt die Brücke immer stärker. Allmählich steigt die Temperatur gut über die 20-Grad-Grenze.
Wir setzen uns beim Imbiss gegenüber in den Schatten. Für wenig Geld erhalten wir dort ein sehr leckeres Mittagessen.
Um 14.04 Uhr fährt der Regionalexpress nach Marburg zurück. Gegen 12.45 Uhr ist die Mittagspause beendet.
Auf der Brücke beziehen wir nun Position auf der Schattenseite. Gelegentlich nimmt ausnahmsweise einmal ein Passant ein Flugblatt von uns.
Auch die Polizisten setzen ihren Wagen aus der Sonne in den Schatten um. Das Auto steht nur einen Meter von uns entfernt.
„Die haben sich ein Eis geholt“, berichtet mein Begleiter. Dann bringt er mir auch eins. Während ich mich noch daran gütlich tue, kommt erneut Bewegung in die Szenerie.
Rasch beziehen mehr als ein Dutzend Uniformierte Stellung auf der Brücke. Sie beginnen, Passanten anzuhalten und verweigern ihnen den Durchgang zum Hauptbahnhof.
„Die meisten sind junge Männer“, meint mein Begleiter. Festgehalten werden aber auch Frauen, die in Begleitung solcher Männer sind.
Ein junger Mann mit einem kleinen Kind wird ebenfalls am Weitergehen gehindert. Die Aufgehaltenen reagieren ruhig. Die Polizisten lassen sich ohnehin auf keine weitere Debatte ein.
Wir beschließen, loszugehen zu unserem Zug. Wir sind gespannt, ob man auch uns anhalten wird.
Ohne ein weiteres Wort lassen die Polizisten uns durch die Sperre hindurch. Derweil warten die 20 bis 30 anderen Demonstranten weiterhin auf der Brücke.
Problemlos erreichen wir den Hauptbahnhof. Am Gleis 1 steht ein Bekannter von uns. Er berichtet, dass die Neonazis von der Lahnstraße aus über die Brücke zu den Gleisen geleitet würden.
Alle Züge wurden auf andere Abfahrtsgleise umgeleitet. Offenbar sollen Neonazis und Gegendemonstranten so wirksamer voneinander getrennt werden. Der Regionalexpress nach Marburg soll auf Gleis 4 abfahren.
Der Bahnsteig ist brechend voll, als wir dort ankommen. Vor unserem Zug wird dort zunächst der Gegenzug nach Frankfurt abgefertigt. Wir stehen direkt neben einem Polizisten mit Funkgerät.
Mit geringer Verspätung rollt der Zug nach Frankfurt ein. Eine Weile lang bleibt er stehen.
Auf der Brücke über die Gleise erkennt mein Begleiter jetzt ganze Hundertschaften von Polizisten. Dann höre ich Rufe: „Eins, zwei, drei, vier“. Mehr verstehe ich nicht.
Unter dem Schutz der Polizei überqueren etwa 30 bis 40 Neonazis auf der Brücke die Bahngleise. Sie werden zum hintersten Waggon des Zugs nach Frankfurt geleitet.
„Nazis raus!“ Diesen lauten Ruf kann ich mir nicht verkneifen. Noch einmal rufe ich: „Nazis raus!“
Immer noch steht der Zug am Gleis 4. Es dauert, bis er abfährt.
„Mit diesem Rufen machst Du Dich zur Zielscheibe“, warnt mich mein Begleiter. Ich erkläre ihm, dass ich die Situation ohne diese Äußerung nicht hätte ertragen können. „Außerdem stehen ja direkt neben uns Polizisten, die uns im Notfall schützen werden, selbst wenn sie es vielleicht nicht gerne tun.“
Der Beamte mit dem Funkgerät antwortet prompt: „Das werde ich sehr gerne tun!“
Wir kommen ins Gespräch miteinander. Er ist sehr nett.
Der junge Beamte stammt von der Bundespolizei in Sankt Augustin. Bereits am Freitag (15. Juli) ist seine Einheit von ihrem Standort in der Nähe von Bonn aus nach Gießen aufgebrochen.
Dann brechen auch wir auf, nachdem unser Zug auf Gleis 4 eingerollt ist. Den ersten Waggon hinter der Lok besteigen derweil die Nazis. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, mit diesen Leuten in einem Zug zu sitzen.
Eine gute Viertelstunde später erreicht der Regionalexpress den Marburger Hauptbahnhof. Mit den Reisenden steigen hier auch Beamte der Bundespolizei aus.
Daheim schalte ich um 15 Uhr das Radio ein. Ungeduldig warte ich auf eine Nachricht über den Nazi-Aufmarsch in Gießen.
„Rund 70 Neonazis“ und „mehrere hundert Gegendemonstranten“ vermeldet der Hessische Rundfunk (HR) um 15 Uhr in seinem Inforadio. Bei den Nachrichten um 17.30 Uhr ist die Demonstration kein Thema mehr. Wenige Minuten später strahlt der Sender allerdings einen Beitrag aus, der offenbar bereits am frühen Mittag fertiggestellt worden war.
Besorgt denke ich darüber nach, wie die Polizeiführung an diesem Samstagvormittag einer Gruppe von Neofaschisten den Marsch durch Gießen ermöglicht und dabei die Rechte demokratischer Bürgerinnen und Bürger beschnitten hat. Von anderen Demokraten habe ich gehört, dass es massive Behinderungen der Demonstrationsfreiheit der Gegendemonstranten gegeben habe.
Die Zahlenangaben im Radio widersprechen den Eindrücken, die ein aufmerksamer Beobachter an diesem Tag in Gießen gewinnen konnte. Ein- bis zweitausend Menschen müssen an diesem Tag gegen die Nazis demonstriert haben.
Ich denke an meinen Vater und meinen Großvater. Beide waren Opfer der Nazi-Diktatur.
Wer von Faschisten Unrecht erlitten hat, der muss Nazi-Aufmärsche als persönliche Bedrohung wahrnehmen. Die Holocaust-Leugnung ist nicht zuletzt auch deswegen strafbar, weil sie eine Verhöhnung und Beleidigung der Opfer darstellt.
Auch durch den Nazi-Aufmarsch fühle ich mich und meine Familie persönlich verhöhnt und bedroht. Doch leider werden wir – hoffentlich mit Unterstützung vieler demokratisch gesonnener Polizisten – wahrscheinlich auch künftig wieder gegen Aufmärsche von Neofaschisten demonstrieren müssen.
Franz-Josef Hanke