Seit 2005 wird das Marburger Leuchtfeuer in der Universitätsstadt Marburg für herausragende Verdienste um soziale Bürgerrechte verliehen. „Ich freue mich, diese besondere Marburger Auszeichnung für 2015 gemeinsam mit der Humanistischen Union an Inge Hannemann überreichen zu dürfen. Sie passen ausgezeichnet zu deren Intention“, wandte sich Oberbürgermeister Egon Vaupel an die 11. Preisträgerin.
Am Freitag (8. Mai) waren rund 50 Gäste aus Politik und Gesellschaft zum Festakt im Historischen Rathaussaal zusammengekommen. Musikalisch umrahmt wurde die Veranstaltung von Jochen Schäfer.
Breitere Bekanntheit erreichte Hannemann als „Hamburger Hartz-IV-Rebellin“ wegen ihrer Weigerung, Bezieher von Hartz IV nach geringfügigen Regelverstößen mit Leistungseinschränkungen zu belegen. Die Mitarbeiterin eines Hamburger Jobcenters berief sich dabei auf den Ermessensspielraum des Gesetzes und den verfassungsmäßigen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Die Androhung von Sanktionen könne nur das letzte Mittel sein, um Leistungsbezieher zur Einhaltung vorgegebener Regeln zu bewegen.
Oberbürgermeister Egon Vaupel hob in seinen Worten an die Preisträgerin hervor, er habe all seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Marburger Stadtverwaltung stets mit auf den Weg gegeben, dass alle Gesetze, Richtlinien und Ausführungsbestimmungen einzuhalten seien, „aber die Entscheidungen, die wir am Ende zu treffen haben, müssen immer zugunsten der Menschen getroffen werden und mit keiner anderen Perspektive.“
„Sie wollten“, so der Oberbürgermeister zu Inge Hannemann, „nicht mehr hinnehmen, was Sie als Auswüchse der Hartz-IV-Praxis im Umgang mit Leistungsbeziehern erlebten und das ist gut so“, betonte das Stadtoberhaupt auch bewusst gegenüber kritischen Stimmen im Vorfeld der Preisverleihung. „Denn ich habe Ihre Kritik nicht als Kritik an ihren Kolleginnen und Kollegen in den Jobcentern verstanden, sondern als etwas, was wir von unseren selbstbewussten Bürgerinnen und Bürgern fordern: Zivilcourage.“ Hannemann habe aufbegehrt und sich einer Obrigkeit und deren Entscheidung widersetzt, so wie es mündige Bürger tun sollten“, führte Vaupel aus.
„Sie haben dies getan für Menschen, die durch diese Entscheidungen in eine existenzielle Notlage gerieten – ein mutiger Schritt“, so das Stadtoberhaupt. Hannemanns Kampf für soziale Bürgerrechte habe für sie berufliche Konsequenzen gehabt, gegen ihren Protest sei ihr eine andere Aufgabe zugewiesen worden, betonte Vaupel weiter. „Ihr Eintreten für Ihre Überzeugung hat dies nicht geschmälert“, hob der Oberbürgermeister hervor.
Es seien meist die sogenannten „kleinen Dinge“ des Alltags, bei denen man ansetzen müsse, machte Vaupel deutlich. Der respektlose Umgang mit Ausländern oder hilfsbedürftigen Menschen, das Überhören einer verletzenden Äußerung, die Gleichgültigkeit gegenüber Gewalt im Privaten wie im öffentlichen Raum. „Sie haben sich zur Fürsprecherin von Menschen gemacht, die ihre Bürgerrechte verletzt sahen. Das Marburger Leuchtfeuer ist bei Ihnen sehr gut aufgehoben“, richtete sich der Oberbürgermeister an die Preisträgerin.
Die Laudatio auf Hannemann hielt der Prodekan der Fakultät „Gesundheit, Sicherheit, Gesellschaft“ der Hochschule Furtwangen, Prof. Dr. Stefan Selke. Am Vorabend der Preisverleihung hatte Selke im Käte-Dinnebier-Saal des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) an der Bahnhofstraße unter dem Titel „Lifelogging und das Leben mit der digitalen Aura“ Streifzüge durch die Welt der digitalen Selbstvermessung unternommen.
In seiner Laudatio verwob Selke nach eigenen Angaben „ein Stück Gesellschaftsdiagnose mit der Würdigung der Leistung der Preisträgerin und ging der Frage nach, „Was ist der Unterschied zwischen Verrätern und Enthüllern?“ Inge Hannemann sei, wie es Selke mit einem Bild ausdrückte, „dem Monster des Bodenlosen begegnet“. Sie habe weder weggeschaut, noch sei sie vor Schreck weggelaufen.
Natürlich gebe es in unserer Zeit für diese gesellschaftliche Entwicklung zahlreiche durchdefinierte Fachbegriffe wie „Erosion des Sozialstaates“ oder „Prekarisierung“. Diese Begriffe verbergen in ihrer vermeintlich objektivierten Sachlichkeit laut Selke, jedoch die zugrunde liegenden Skandale. Das Bild vom „Monster des Bodenlosen“ drücke die allgegenwärtigen Abbau-, Spar- und Disziplinierungsmaßnahmen aus, mit denen in diesem Land immer mehr Menschen existenziell in Bedrängnis gebracht würden. „Das allgegenwärtige Verdrängen, Verschweigen, Vertuschen konnte Inge Hannemann nicht ertragen“, hob der Laudator hervor und zitierte die Preisträgerin: „Ich bin raus, weil ich Missstände öffentlich gemacht habe. Es wäre nichts passiert, wenn ich Dienst nach Vorschrift gemacht hätte.“
Enthüllung setze eine Lüge voraus, ein bewusst gewolltes Täuschen. Verrat setze ein Geheimnis voraus, ein bewusst gewolltes Verbergen, stellte Selke fest und betonte: „Das Problem unseres Staates besteht darin, dass statt Menschlichkeit Recht zur Anwendung kommt. Die edelste Form von Menschlichkeit besteht aber im Verzicht darauf, Recht zu haben.“ Genau das zeichne Inge Hannemann aus: Der praktische Verzicht darauf, Recht zu haben und stattdessen Menschlichkeit walten zu lassen. „Exakt für diese Lehre, für diesen Akt praktischer Enthüllung, für diese Form der Zivilcourage sind wir alle Inge Hannemann zu großem Dank verpflichtet. Ich glaube, unser Land braucht diese Form der Rebellion mehr als vieles andere.“
Inge Hannemann betonte in ihrer Dankesrede, von den Medien werde meist vorgegaukelt „Die Arbeitslosigkeit sinkt und die Wirtschaft boomt“. Angesichts der Anzahl der Beschäftigten im Niedriglohnsektor sehe Hannemann diese Berichte sehr bedenklich und grotesk. Auch wenn Studierende und Absolventen von einem unbezahlten Praktikum zum nächsten wechselten und all dies akzeptierten und sich anpassten. „Genau das müsst ihr eben nicht“, appellierte die Preisträgerin. „Kämpft für eure Rechte und eine gerechte, faire Entlohnung.“
„Hartz IV gehört abgeschafft“, so die Preisträgerin des Marburger Leuchtfeuers 2015, aber man müsse sehen, was jetzt möglich sei: „Wie kann ich Menschen auf Augenhöhe begegnen? Wie kann ich Menschen so vermitteln, dass es sinnvoll ist?“
Das könne kein einzelnes Jobcenter verändern, das müsse durch die Bundesagentur für Arbeit, durch das Ministerium für Arbeit und Soziales und auch durch das Finanzministerium kommen, indem mehr Gelder zur Verfügung gestellt und nicht Jahr für Jahr gekürzt würden, machte Hannemann deutlich. „Wir brauchen Gelder, wir brauchen bessere Schulungen und wir brauchen Respekt auf beiden Schreibtischseiten.“ Hannemann wünschte sich, dass viel mehr Menschen aufstünden, dass gesellschaftliche Teilhabe für alle Menschen möglich sei, ohne Stigmatisierung, ohne Ausgrenzung.
„Ich bin der Meinung, dass Grund- und Menschenrechte unverkäuflich sind und vor allem noch weniger verhandelbar. Dafür werde ich mich weiter einsetzen und auch weiter dafür kämpfen“, machte Hannemann abschließend deutlich.
Unter den bisherigen Leuchtfeuer-Preisträgern befinden sich so illustre Persönlichkeiten wie der katholische Sozialethiker Prof. Dr. Friedhelm Hengsbach, der Forscher Prof. Dr. Dr. Dr. Rolf Schwendter und der Psychiater Prof. Dr. Horst-Eberhard Richter sowie die Journalistin Ulrike Holler, die langjährige Marburger Gewerkschaftsvorsitzende Käte Dinnebier und die Behindertenpädagogin Sabrye Tenberken. Im Jubiläumsjahr 2014 ging die Auszeichnung an den Sozialpädagogen Dr. Ulrich Schneider vom Paritätischen Gesamtverband in Berlin.
In Hannemann sieht die Jury eine würdige Fortführung dieser Tradition. Der Einsatz für die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen ohne Ansehen ihrer gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Stellung sei bei ihr gepaart mit persönlichem Mut und der Bereitschaft, die eigene gesellschaftliche und berufliche Position dem Eintreten für ihre Überzeugung unterzuordnen. In dieser Grundhaltung sieht die Jury ein leuchtendes Vorbild für bürgerschaftliches Engagement zugunsten des im Grundgesetz verankerten Rechtsstaatsgebots.
Universitätsstadt Marburg