pm 3/92: Der Griff nach den gläsernen Genen – Presseerklärung zum Abschluß der Tagung

„Ein Betrunkener kommt nach Hause; an der Haustür merkt er, daß er seinen Schlüssel vergessen hat. Da geht er zurück bis zur nächsten Straßenlaterne und beginnt, unter dieser Lampe nach dem Schlüssel zu suchen. So wie dieser Betrunkene verhalten sich auch Genforscher: Sie suchen dort, wo sie Licht sehen!“
Mit diesem Vergleich beschrieb der Erlanger Soziologe Dr. Rainer Hohlfeld am Samstag auf der Tagung „Der Griff nach den gläsernen Genen“ in Marburg das Vorgehen der modernen biologischen Wissenschaften, wenn sie versuchen, psychische Phänomene genetisch zu erforschen. Wissenschaftler und Genetiker, die genetische Analyseverfahren entwickeln, müßten auch die gesellschaftlichen Auswirkungen ihrer nachherigen Anwendung von vornherein mit bedenken.
Die Verfahren der Genomanalyse und Pränataldiagnostik könnten sehr schwere eugenische Folgen nach sich ziehen. Die Aussonderung von Embryonen, die wegen ihrer Erbanlagen abgetrieben werden sollen, fuße auf gesellschaftlich gesetzten Vorstellungen über das „Gesunde“ und „Normale“. Insbesondere die Forschung nach Genen für „psychische Defekte“ hält Hohlfeld für den Versuch, biologisch bisher nicht seriös definierbare Krankheitsbilder genetisch erklären zu wollen.
Die Genomanalyse betreibe die Individualisierung gesellschaftlicher, ökologischer und technischer Probleme. Umweltzerstörung, Streß und menschliche Arbeitsbedingungen sollten nicht beseitigt werden, sondern die einzelne Person solle den Preis dafür bezahlen.
Das industrielle System versucht nach Einschätzung anderer Tagungsteilnehmer, sich mit Hilfe der Gentechnologie über die Folgen seiner eigenen Fehler hinüberzuretten, ohne diese Fehler korrigieren zu müssen; gleichzeitig entwickele es dabei eine neue profitable Technologie.
Im Zuge knapper werdender Mittel sieht Dr. Volker Bahl, Mitarbeiter des DGB Rheinland-Pfalz, einen wachsenden „Bedarf“ nach genetischen Tests, um durch Anwendung dieser biologischen Methoden die Aussonderung der „Überflüssigen“ aus dem Arbeits- und Alltagsleben scheinbar neutral zu rechtfertigen.
Genetische Diagnoseverfahren beziehen sich auf Krankheitsdispositionen, also die Möglichkeit ihres Auftretens. Solche Analysen könnten für die Betroffenen schwerwiegende Folgen haben. Überall dort, wo Unterordnungsverhältnisse bestehen, muß deshalb die Genomanalyse kategorisch verboten werden, weil man einen leichten Druck niemals ausschließen könne.
Der Bremer Datenschutzrechtler Prof. Wilhelm Steinmüller forderte ein international abgesichertes „Genverkehrsgesetz“, das das Recht jedes Bürgers auf „genetische Selbstbestimmung“ sicherstellen soll. Dieses Gesetz müsse ein Verbot personenbeziehbarer elektronischer Erfassung genetischer Daten und ihrer Weitergabe enthalten. Eine Einwilligung in die Vornahme genetischer Analysen müsse in zahlreichen Spezialbereichen für unbeachtlich gehalten werden, da sie einerseits aufgrund wirtschaftlichen, gesellschaftlichen oder beruflichen Drucks zustande kommen könne, andererseits die Daten einer Person auch Aufschluß über „Dispositionen“ von Verwandten geben könnten.
Jede Zelle sei ein kompletter Datensatz der allerpersönlichsten Daten des Menschen, zudem einerseits beschränkt auf ererbte Merkmale. Deshalb dürfe mit biologischem Material im Zeitalter der Entschlüsselung des Genoms nicht mehr so sorglos umgegangen werde wie bisher. Hier bestehe Regelungsbedarf, bei dem sowohl ein gesellschaftlicher Diskurs wie auch der Gesetzgeber notwendig seien.
Einhellige Kritik äußerten alle Tagungsteilnehmer an den „Ethik-Kommissionen“ der Ärzteschaft, die ihre Arbeit meist im Verborgenen betrieben und zudem – aufgrund ihrer Besetzung mit Ärzten – Richter in eigener Sache seien. Die Öffentlichkeit müsse hier stärker beteiligt werden. Das ärztliche Standesrecht hielten die meisten Anwesenden für unzureichend.
4.800 genetische Dispositionen sind heute bekannt, von denen rund 1.200 als monogene Erbkrankheiten gelten. Rund 45 davon werden heute in der Bundesrepublik mit anerkannten Methoden genetisch diagnostiziert. Die Marburger Ärztin Marina Steindor berichtete über aufkommende Zweifel an genetischen Untersuchungsverfahren, die möglicherweise den Embryo schädigen könnten. Zudem verursache die vorgeburtliche Untersuchung Streß bei den Schwangeren, die vor einem negativen Ergebnis zittern.
Ein Recht auf Nichtwissen ist deshalb eine der Grundforderungen im Umgang mit genetischen Daten. Es gibt keine sensibleren Daten als die im Erbmaterial angelegten Informationen. Schon die Erhebung solcher Daten dürfe nur in anonymisierter Form geschehen, sofern sie überhaupt für notwendig erachtet wird.
Sicherlich haben auch die Humangenetiker dazugelernt. Eine Verwendung von Stammbaumdaten, die einst von Nazi-Behörden erhoben wurden, lehnen seriöse Humangenetiker heutzutage ab. Auch eine Nachforschung nach weiteren Familienangehörigen mit demselben „Syndrom“ soll allein durch die Patienten erfolgen.
Dennoch bestehen begründete Befürchtungen, daß insbesondere private Einrichtungen der Humangenetik kommerzielle Interessen vor die Achtung der Menschenwürde ihrer Patienten stellen könnten. Deshalb müßten die Bedingungen für die Zulassung zur Humangenetischen Beratung ebenso geregelt werde wie der Katalog ihrer Praxis. Die Beratung dürfe nicht allein durch interessierte Ärzte erfolgen, sondern müsse auch den kostenfreien Zugang zu juristischer Beratung umfassen.
Die Gentechnologie ist eine Querschnittstechnologie, bei der die in den unterschiedlichsten Bereichen – Landwirtschaft, Pharmaproduktion, Tierzucht und Humangenetik – entwickelten Methoden auf die anderen Gebiete übertragen werden können. HU-Bundesvorsitzender Ulrich Vultejus kündigte deshalb an, daß die Humanistische Union die weitere Entwicklung der Gentechnik in allen Bereichen aufmerksam verfolgen werde. Franz-Josef Hanke

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