Vor der Wahl gibt es sie wieder: die Politiker „zum Anfassen“, ganz bürgernah und sehr interessiert an den Problemen der Menschen. Sie verteilen so praktische Dinge wie Luftballons und Stadtpläne (Direktwahl des Fremdenverkehrsdirektors?) und schnell ist so manches versprochen …
Eine kontinuierliche Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger in die kommunalen Entscheidungsprozesse zieht die Humanistische Union den aufwendigen Werbekampagnen vor anstehenden Wahlen vor. In einem Offenen Brief an die Parteien und Wahllisten, die am 7 März zu Stadtparlament und Kreistag kandidieren, fragt der HU-Ortsverband Marburg nach der Bereitschaft der Bewerber, mehr Mitwirkung der Bürger zu ermöglichen.
Wenn heute über Politikverdrossenheit geklagt wird und insbesondere rechtslastige Parteien mit demagogischen Sprüchen statt durchdachten Konzepten Zulauf finden, sieht die HU darin auch ein Ergebnis eines gesellschaftlichen „Lernprozesses“: in den späten siebziger und fast die gesamten achtziger Jahre hindurch gab es breite Bürgerbewegungen zu vielen politischen Themen, die Menschen engagierten sich – oft mit sachlichen Argumenten untermauert – etwa zu Fragen des Umweltschutzes, gegen die Blockkonfrontation, frühzeitig gegen die aufkommende Wohnungsnot. Gemeinsam sei diesen Bewegungen ihr geringer Erfolg gewesen: mit Zähnen und Klauen verteidigten Politiker ihre Entscheidungsbefugnis. Um jedoch unsere liberale Demokratie langfristig zu erhalten, muss sie nach Auffassung der HU ausgebaut werden. Bürgerinnen und Bürger müssen per Volksentscheid selber bestimmen können, wo’s langgeht.
Die hessische Kommunalverfassung bietet erste Ansätze zu solcher direkter Demokratie. Der HU-Ortsverband Marburg fragt die Kandidatinnen und Kandidaten, ob und wie sie diese Ansätze nutzen möchten, wann sie bislang den Sachverstand der Bürgerinnen und Bürger konsequent in ihren Entscheidungsfindungsprozess eingebaut haben und ob sie sich auf Landesebene dafür einsetzen werden, dieses Instrument der Mitbestimmung weiter auszubauen?
Die Oberbürgermeister werden jetzt erstmalig direkt gewählt. Die Humanistische Union hält den zugrundeliegenden Gedanken für richtig, den Bürgerinnen und Bürgern direkte Entscheidungskompetenz dazu einzuräumen, wer sie repräsentieren soll.
Nur ein schwaches Zeichen wäre es nach Ansicht der HU jedoch, hierbei stehenzubleiben. In Baden-Württemberg können die Wahlberechtigten kumulieren,
also dem Kandidaten, der ihre Interessen am besten vertritt, mehrere Stimmen geben, auf dass er in seiner Parteiliste nach oben rückt. Auch können sie panachieren, also Personen ihres Vertrauens eine Stimme geben, ohne gleichzeitig deren Partei zu befördern – diese Stimme können sie getrennt vergeben. Gleichzeitig gibt es in Baden-Württemberg für Kommunalwahlen keine 5 % – Klausel – mit dem Effekt, dass die Kommunalpolitik nicht nur von den großen Parteien betrieben wird. Die HU fragt die Parteien, Kandidatinnen und Kandidaten, ob und wie sie sich für eine weitere Reform und Demokratisierung des Wahlrechts einsetzen wollen?
In Hessen wurde jüngst das Bürgerbegehren als Schritt hin zu mehr Demokratie auf kommunaler Ebene eingeführt. Doch können Bürgerinnen und Bürger damit nur verlangen, dass ein bestimmter Punkt vom Stadtparlament behandelt wird. Der entscheidende Schritt wäre nach Ansicht der HU jedoch, die Bürgerinnen und Bürger nicht nur über die Tagesordnung, sondern auch zur Sache entscheiden zu lassen. Auch hier die Frage an Parteien, Kandidatinnen und Kandidaten, ob und wie sie sich für eine weitere Demokratisierung engagieren werden?
Die Bürgerrechtsorganisation hält eine Umsetzung von Bürgerrechten auch auf kommunaler Ebene für möglich. Dies könne sowohl im Umgang mit gesellschaftlich benachteiligten Bürgern geschehen, für die Hilfsangebote bereitgestellt werden, wie auch im Planungsverfahren bei der Ausweisung neuer Wohngebiete. Eine integrative Nutzung der ehemaligen Kasernen durch Asylbewerber, Studenten, Behinderte und einkommensschwächere Familien im Sozialen Wohnungsbau wie gleichzeitig auch durch ein Angebot auf dem freien Wohnungsmarkt und die Vergabe von Räumen an Kleingewerbetreibende könnten die Bürgerrechte Betroffener vor Ort praktisch verwirklichen.
Die Humanistische Union fragt die Bewerber um kommunale Ämter, wie sie sich diesen Problemen stellen. Den Wählerinnen und Wählern rät die HU, Kandidaten nicht wegen ihrer Versprechen ins Parlament zu schicken, sondern sie nach ihren Leistungen in der Vergangenheit zu beurteilen. Keineswegs dürfe Marburg – so HU-Ortsvorsitzender Franz-Josef Hanke – wieder einen Oberbürgermeister wählen, der das Gespräch mit Bürgerinitiativen und Bewohnern der Stadt systematisch meidet. „Das beste Wahlgeschenk“, so die HU abschließend, „ist eine menschengerechte Politik.“ Franz-Josef Hanke