Entsetzt ist die Humanistische Union (HU) über Diskussionen um medizinische Leistungen für Senioren. In ihnen sieht der HU-Ortsverband Marburg den Gipfel einer rücksichtslosen „Entrümpelung“ des Sozialstaats und seiner Sicherungssysteme.
Deutschlands älteste Bürgerrechtsorganisation ruft Bürger, Politiker und Medien zur Solidarität mit den Schwächeren auf. Deutschlands Sozialsysteme – so eine einstimmige Erklärung der Mitgliederversammlung des HU-Ortsverbands Marburg vom Dienstag (24.Juni) – haben den sozialen Frieden mehr als 120 Jahre lang erfolgreich gesichert. Allein das Ende der Weimarer Republik brachte eine Massenverelendung, die viele verunsicherte „Underdogs“ in die Arme des Faschismus trieb. Schon aus diesem Grund warnt die HU vor unnötigen Einschnitten ins soziale Netz.
Vor Sparmaßnahmen bei den Sozialsystemen sollten die Verantwortlichen alle anderen Finanzierungsmöglichkeiten zum Erhalt der sozialen Sicherung ausschöpfen. Dies gebietet nach Auffassung des HU-Ortsverbands Marburg auch das Grundgesetz. Darin ist das Sozialstaatsprinzip als wesentliches und unabänderliches Merkmal der Bundesrepublik verankert. In diesem Verfassungsgrundsatz sieht die HU die Verpflichtung aller staatlichen Organe zum Schutz der sozial Schwachen als vorrangige Aufgabe des Staates.
Die Debatten der zurückliegenden Monate – wenn nicht Jahre – über angeblichen „Sozialmissbrauch“ und die steigenden Kosten der sozialen Sicherung haben nach Auffassung der HU ein Klima rücksichtsloser Kosten-Nutzen-Kalkulationen geschaffen. Menschen würden dabei zu Kostenfaktoren, an denen gespart werden müsse. Der Schutz der Menschenwürde als oberster Verfassungsgrundsatz sei vielen Verantwortlichen in Politik und Verwaltung schon lange abhanden gekommen. Erst in diesem menschenunwürdigen Diskussionsklima sei die Erwägung aussprechbar geworden, Bürgerinnen und Bürgern nach dem 75. Geburtstag eine intensivmedizinische Behandlung zu verweigern. Allerdings spricht sich die HU nicht für einen uneingeschränkten Einsatz der Apparate-Medizin aus. Leitlinie ärztlichen Handelns muss eine Güterabwägung zwischen dem medizinisch Notwendigen und dem Sinnvollen sowie die Entscheidung des jeweiligen Patienten sein. Ihm dürften Behandlungen aber nicht allein wegen seines hohen Alters vorenthalten bleiben. Den HU-Ortsverband erinnern solche Vorschläge an die Nazi-Ideologie vom angeblich „menschenunwürdigen Leben“. Solche Vorstellungen lehnt die HU entschieden und konsequent ab. Der HU-Ortsverband Marburg ruft alle Bürgerinnen und Bürger auf, sich für eine solidarische Gesellschaft und den Schutz der Schwächeren durch die Starken einzusetzen.
Die Bürgerrechtsorganisation schlägt vor, den Politikern Protestbriefe und -mails gegen eine einseitige Belastung der sozial Schwachen bei sogenannten „Sozialreformen“ zu schicken. Auch die Unternehmen haben nach Überzeugung der HU die Pflicht, ihre Erträge teilweise in den Schutz des sozialen Friedens zu investieren. Wer behauptet, „wir müssen den Gürtel enger schnallen“, der solle selbst damit beginnen. „Abspecken“ könne schließlich nicht der Schlanke, sondern wesentlich eher der Wohlbeleibte. Derzeit propagierten viele Sozial- und Gesundheitspolitiker aber die Magersucht. „Nur eine gerechte Verteilung der Grundversorgung schafft sozialen Frieden“, heißt es abschließend in der Erklärung. „Die Teilhabe an sozialer Daseinsvorsorge ist auch die Voraussetzung für eine lebendige Demokratie. Wer den Sozialstaat abbaut, der gefährdet auch die Demokratie.“
Dragan Pavlovic