Meine Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde!
„Warum gehen die Leute auf die Straße?“ – „Sie haben kein Brot!“ – „Dann sollen sie doch Kuchen essen!“ Diese Äußerung ist von der französischen Königin Marie-Antoinette überliefert. Ihre ignorante Haltung gegenüber der Not des Volks kostete die Königin schließlich den Kopf.
An diese Geschichte aus den Tagen der Französischen Revolution erinnert mich der jüngste Spruch von Wolfgang Clement: „Ein-Euro-Jobs steigern das Selbstwertgefühl.“
An der Zurechnungsfähigkeit des Bundeswirtschaftsministers darf man spätestens seit seiner Aussage zweifeln, mit Ein-Euro-Jobs könne ein Erwerbsloser ein Monatseinkommen von bis zu 1.000 Euro erzielen.
Wir haben das im Arbeitskreis „Erwerbslosigkeit und Soziale Bürgerrechte“ (ESBR) des HU-Ortsverbands Marburg einmal nachgerechnet: Um das Grundeinkommen von 345 Euro bis auf 1.000 Euro aufzustocken, müsste man bei einem Stundenlohn von 2 Euro etwa 80 Stunden jede Woche arbeiten. Das Arbeitszeit-Gesetz begrenzt die wöchentliche Arbeitszeit aber auf 48 Stunden!
Aber Clements Taschenspielertricks kennen wir ja schon!
Uns allen ist noch gut in Erinnerung, wie er versucht hat, die Erwerbslosen um ein Monatseinkommmen zu „behummsen“, oder wie sagt man das auf hochdeutsch?
Vor dem Bundesrat hat Clement zudem von „großzügigen Zuverdienstmöglichkeiten“ gesprochen. Festgelegt ist im Sozialgesetzbuch II – besser bekannt unter dem Namen „Hartz IV“ – jedoch, dass Erwerbslose von einem 400-Euro-Nebenjob ganze 60 Euro behalten dürfen. 85 Prozent ihres sauer verdienten Lohns sollen sie abtreten. Großzügig ist das nur für die Bundesagentur für Arbeit!
Vollmundig versprach Clement 600.000 neue Jobs auf Basis dieser Regelung. Von „Jobs“ zu reden, ist unter solchen Bedingungen – gelinde gesagt – eine Unverschämtheit. Es handelt sich hier wohl eher um Zwangsarbeit oder – wie es neulich treffend ausgedrückt wurde – um die „Wiedereinführung des Reichs-Arbeitsdienstes“.
In einem Land, das – auch hier in Marburg – gerade mühevoll seine schlimme Verstrickung in das Nazi-Programm „Vernichtung durch Arbeit“ aufarbeitet, sollte jegliche Form von Zwangsarbeit völlig außerhalb jeder Debatte stehen!
Bei ihrem Demokratie-Verständnis scheinen sich etliche Politikerinnen und Politiker am klassischen Athen zu orientieren. Nur nehmen sie sich nicht dessen Steuerpolitik zum Vorbild: In Athen gab es Abgaben ausschließlich für Vermögende!
Doch die Politiker kopieren eher die damaligen Zugangsrechte zu demokratischen Entscheidungen: 37.000 Wahlberechtigten standen im antiken Athen mehr als 100.000 nicht stimmberechtigte Sklaven gegenüber. Das Wahlrecht möchten Clement und Konsorten den Erwerbslosen zwar noch nicht nehmen, doch behandeln sie sie wie eine Art moderne Heloten: Wichtige Grundrechte wie der Datenschutz, die Freie Wahl des Wohnorts und des Arbeitsplatzes sowie das elementare Grundrecht auf den Schutz vor existenzieller Not werden ihnen einfach vorenthalten.
„Handwerkliche Fehler“ räumt selbst der Bundeskanzler bei dieser sogenannten „Reform“ ein. Doch Schlamperei auf Kosten der Existenzbedingungen von Millionen Menschen ist nicht hinnehmbar. Eine Regierung, die ihr „Handwerk“ so unverantwortlich ausübt, sollte darüber nachdenken, ob sie nicht zurücktritt!
Meine Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde!
Alt und weise sind sie wahrlich nicht, sie heißen nur so. Ihr wisst wahrscheinlich, wen ich meine: Heinrich Alt, den Vize-Chef der Bundesagentur für Arbeit – kurz BA – den Mann, der Erwerbslose mit Hausbesuchen beglücken wollte, und Frank-Jürgen Weise, den BA-Boss, der die so „ermittelten“ Daten auf eine elektronische Chipkarte – die JobCard – aufspeichern will. Dreistellige Millionensummen haben die beiden bereits für die BA-Homepage und eine Telefonanlage in den Teich gesetzt; aber da spricht niemand von „Missbrauch“.
Selbstverständlich gibt es ihn, den Missbrauch der Sozialsysteme. Er findet tagtäglich in unseren Medien statt. Vertreter von Wirtschaftsverbänden begehen ihn, indem sie die Sozialsysteme als zusätzliche Profitquelle missbrauchen!
Zur Durchsetzung dieser ungerechten Politik befürchtet die Humanistische Union nun weitere Einschränkungen der Bürgerrechte und Verschärfungen des Polizeirechts. Schon jetzt sollen Demonstrationen in Hessen bis zu 200 Euro „Verwaltungsgebühr“ kosten. Das Demonstrationsrecht ist ein unverzichtbares Grundrecht in der Demokratie.
Demonstrantenschelte -wie man sie in den letzten Tagen von Regierungsseite zu hören bekam – ist Ausdruck mangelnden demokratischen Bewusstseins, Herr (Ab)kanzler! Ich finde es Klasse, dass die Regierenden uns nun schon vorschreiben wollen, wogegen wir protestieren und wie unsere Demos zu heißen haben!
Gerade auch deshalb fordert die Humanistische Union alle sozial eingestellten Menschen auf, sich an den Protesten gegen die Zerschlagung des Sozialstaats zu beteiligen. Die Festlegung des Grundgesetzes „Die Bundesrepublik ist ein Sozialer Rechtsstaat“ darf nicht auf dem Schleichweg zur Makulatur gemacht werden!
Den Erwerbslosen möchte ich den Rat des Marburger Rechtsanwalts Dr. Peter Hauck-Scholz mit auf den Weg geben: Beharren Sie auf Ihrem Grundrecht auf Informationelle Selbstbestimmung! Füllen Sie nicht alle 100 Fragen des in diesen Tagen verschickten Antragsformulars für Arbeitslosengeld II aus! Stellen Sie Ihren Antrag formlos!
All diejenigen, die nicht selbst direkt von Erwerbslosigkeit betroffen sind, fordere ich zur Solidarität mit den Sozial Schwachen auf.
Es heißt, die Leute protestierten ja nur, weil sie das Sozialgesetzbuch II nicht kennen! Im Gegenteil: Gerade weil sie verstanden haben, was da auf sie zukommt, gehen sie auf die Straße!
Die Liste der Schweinereien im Zusammenhang mit Hartz IV ist so lang, dass wir noch bisMitternacht hier stehen könnten, und noch immer wäre nicht alles Wichtige angesprochen. Ich möchte Sie und Euch aber nicht quälen, sondern lieber auf die Internetseiten
www.tacheles-sozialhilfe.de und www.hu-marburg.de verweisen. Schließlich gibt es nächsten Montag ja auch wieder eine Demo und da sehen wir uns dann alle wieder, hoffentlich noch ein paar mehr. Das machen wir so lange weiter, bis in Deutschland endlich wieder soziale Verantwortung eingezogen ist und Hartz IV dahin wandert, wo es hingehört: Auf den Müll! Und vielleicht wird seine ignorante Haltung gegenüber der Not des Volkes ja auch den einen oder anderen Politiker den Job kosten!
Franz-Josef Hanke