Die Menschenwürde würdigen – Soziale Grundrechte standen im Zentrum einer bundesweiten HU-Tagung

„Es gibt viel zu tun; packen wir’s an!“ Mit diesem Zitat eröffnete Franz-Josef Hanke am Samstag (30. Januar) im Stadtverordneten-Sitzungssaal eine bundesweite Tagung der Humanistischen Union (HU).

Eingeladen hatte der HU-Ortsverband Marburg unter dem Motto „Wenn die Würde gewürdigt würde“. Über 90 Interessierte waren erschienen, um sich gemeinsam in Vorträgen und Diskussionen über die Ausgestaltung Sozialer Grundrechte in Deutschland Gedanken zu machen.

Zuvor stimmte das „Duo Grafitti“ die Anwesenden musikalisch auf das Tagungsthema ein. Die beiden Musiker Rainer Husel und Prof. Dr. Holger Probst sangen mit Gitarre „Ich werde Hartz IV“ und von menschlichem Müll.

Mit der nicht minder provokanten Frage „Ist der Sozialstaat unbezahlbar?“ trat Dr. Kai Eicker-Wolf vom Deutschen Gewerkschaftsbund Hessen-Thüringen anschließend ans Redepult. Warum diese Frage für ihn eher rhetorischer Natur ist, belegte der Experte für Wirtschaftspolitik durch selbst recherchierte Zahlen.

„Der deutsche Staat ist Spar-Weltmeister“, verkündete Eicker-Wolf. Entgegen verbreiteter Thesen habe er in den letzten Jahren nicht über seine Verhältnisse gelebt.

Der eigentliche Grund für die knappen finanziellen Mittel liege in fortwährenden Steuerausfällen seit dem Jahr 2000. Zu Mindereinnahmen von 50 Milliarden Euro allein im Jahr 2009 habe die Entlastung reicher Haushalte durch Steuerreformen geführt.

Gleichzeitig investiert Deutschland nach Eicker-Wolfs Zahlen im europäischen Vergleich am wenigsten in die öffentliche Versorgung und den Bildungssektor. „Das ist kaum in der Öffentlichkeit bekannt.“

Statt weiter auf die „Ausgaben-Bremse“ zu treten, forderte Eicker-Wolf hier mehr Investitionen und ein gerechteres Steuersystem. Dann könne man auch in Bezug auf Sozialleistungen mit den anderen europäischen Ländern mithalten.

„Das eigentliche Problem ist nicht die Gesetzeslage, sondern der Vollzug“, beurteilte auch Dr. Peter Hauck-Scholz in seinem Vortrag die momentane Situation der deutschen Sozialgesetzgebung. Der Marburger Jurist gab aus seiner eigenen Erfahrung als Rechtsanwalt einen Einblick in die gesetzliche Praxis von Hartz IV.

Unter der Maxime der „Missbrauchsbekämpfung“ förderten die Gesetze „ganz massiv“ die Tendenz zur Diskriminierung von Erwerbslosen, prangerte Hauck-Scholz an. Besonders scharf kritisierte er den Generalverdacht, unter den bereits das Gesetz die Leistungsbezieher stelle: „Dann ist das wie bei der Rasterfahndung.“

Zudem seien viele Erwerbslose in der Rechtslage nicht bewandert genug, um sich entsprechend wehren zu können. „Die Folge ist, dass ein Großteil der Betroffenen gerade nicht zum Anwalt geht, obwohl sie objektiv darauf angewiesen sind“, schloss der Anwalt.

Als mögliche Lösung schlug er der HU vor, in einem Appell die 150.000 deutschen Rechtsanwälte aufzufordern, pro Jahr wenigstens zwei Hartz-IV-Mandanten zu betreuen. Oft sei es zur Durchsetzung ihrer Interessen schon ausreichend, wenn „ein Anwalt auf der Matte steht“.

Als „äußerst bedenklich“ bezeichnete Richter Udo Geiger aus Berlin anschließend die Praxis an den sozialgerichten. Häufig sei es ihnen überlassen, ungenaue gesetzliche Vorgaben auszulegen.

Die Folge seien sehr harte Regelungen und Abwimmelungs-Taktiken. So müssen Hartz IV-Bezieher mitunter Konto-Auszüge vorlegen, obwohl ihre Leistungsberechtigung schon überprüft worden ist.

Hier werde eine „vielleicht im Kern berechtigte Forderung grottenschlecht umgesetzt“, kritisierte Geiger. Seine praktischen Beispiele eines menschenunwürdigen Umgangs ergänzten in einer anschließenden Diskussionsrunde die Teilnehmer durch eigene Erfahrungen.

Die teilweise sehr emotionalen Äußerungen zeigten direkt das von Geiger angesprochene Ohnmachtsgefühl vieler Betroffener. Sachlich und ausführlich gingen Hauck-Scholz und Geiger auf die gestellten Fragen ein.

„Ich traue mich gar nicht recht, noch eine sozialethische Stellungnahme abzugeben. Nnach dem Vorangegangenen hieße das, Eulen nach Athen zu tragen“, bekundete deshalb Prof. Dr. Friedhelm Hengsbach SJ. Der Sozialethiker entwarf dennoch sein Bild einer gerechten Gesellschaft.

Als wichtigste Maxime benannte der Träger des Marburger Leuchtfeuers 2006 dabei eine „wechselseitige Anerkennung und Achtung“ der Menschen. Allen Menschen müsse das gleiche Recht auf Zugang zu allen Gütern der Erde sowie Raum zum Leben und ein Recht auf Arbeit zustehen.

Warum das Grundgesetz hierzu keine Stellung nimmt, erläuterte im Anschluss der Staatsrechtler Prof. Dr. Martin Kutscha aus Berlin. Der Text des Grundgesetzes sei von vornherein nur als „Übergangsverfassung“ geplant gewesen, erklärte der Staatsrechtler. Die Folge sei eine sehr willkürliche Auslegung der Verfassung in Bezug auf darin enthaltene soziale Grundrechte.

„Soziale Grundrechte sind Freiheitsrechte“, proklamierte Kutscha. Deshalb forderte er von der HU, solche Rechte verstärkt zu thematisieren.

Das Ziel, „das Thema Soziale Grundrechte zu einem starken innenpolitischen Thema zu machen“, bestätigte Jutta Roitsch in ihrem Schlusswort. „Dass die Gesetzgebung von den Sozialgerichten gestaltet wird, kann in einer Parlamentarischen Demokratie nicht sein.“

„Der Staat muss von uns gestaltet werden“, forderte Hanke abschließend. Mit der Hoffnung, „dass wir alle als Flammenwerfer hinausgehen“ in die Kälte draußen vor der Tür, entließ er die Teilnehmer auf den Heimweg.

Christian Haas

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