Die Sonne verspricht einen schönen Tag. Durch beinahe menschenleere Straßen laufen wir in Richtung Hauptbahnhof. Nur wenige Autos sind unterwegs.
Gegen 8.40 Uhr erreichen wir den Bahnhofsvorplatz. Auf der Nordseite bei der Einmündung der Ernst-Giller-Straße steht eine größere Gruppe von Menschen. Hier sollen gegen 9 Uhr die Busse nach Biblis abfahren.
Wir suchen nach Jochen. Gemeinsam mit ihm wollen auch wir in Biblis gegen die weitere Nutzung der Atomenergie demonstrieren. Nach der Atomkatastrophe von Fukushima fühle ich mich in meiner Haltung gegen die Atomkraft erneut bestätigt.
Zum 25. Jahrestag der Atomkatastrophe von Tschernobyl finden an verschiedenen Atom-Standorten Demonstrationen gegen die weitere Nutzung der Kernenergie statt. Das nächstgelegene Atomkraftwerk von Marburg aus ist Biblis.
Ein einziges Mal habe ich den Meiler bereits umrundet. Das liegt mehr als 25 Jahre zurück. Damals gehörte ich noch dem Landesvorstand der Grünen Hessen an.
„Atomkraft ist Tod-sicher“, steht auf einem selbst gemalten Pappschild. Andere halten Transparente in die Höhe.
Erleichtert nehmen wir Jochen in Empfang. Bei Demonstrationen sorgt er immer für gute Stimmung.
Ein Doppeldecker rollt über den Bahnhofsvorplatz. Er fährt um das Rondell vor dem Hauptbahnhof herum und hält dann unter der Brücke, über der sich die Stadtautobahn B3A befindet. Fünf weitere Busse folgen ihm.
Eilig versuchen wir, einen Bus zu ergattern. Erst werden wir zweimal abgewiesen, bevor wir in den dritten Reisebus einsteigen. Hier finde ich nur noch einen Sitzplatz in der dritten Reihe genau über dem Schutzblech.
Gegen 9.15 Uhr setzen sich die Busse in Bewegung. In Gießen und bei einer Raststätte auf der Autobahn in der Nähe von Darmstadt sind Zwischenstopps vorgesehen.
Trotz der eingeklemmten Beine ist meine Stimmung gut. Dafür sorgt auch Jochen, der über den Innenlautsprecher des Busses Lieder vorträgt. Besonders viel Gelächter erntet seine Version von „Burli“, das die „Erste Allgemeine Verunsicherung“ (EAV) im Jahr 1988 als Antwort auf die Atomkatastrophe von Tschernobyl herausgebracht hat.
Zwischen den Gesangsdarbietungen ergeben sich Gespräche unter den Mitreisenden. Außerdem stellt Gesa vom Anti-Atom-Plenum Marburg (AAM) kurz das Programm vor. Die Gruppe hat die Busse nach Biblis organisiert.
Matthias verteilt einige Zettel mit Parolen und Liedtexten an die anderen Fahrgäste. Auf „Marmor, Stein und Eisen bricht“ und „Yesterday“ hat Tom Kraft eigene Texte gegen die Atomkraft verfasst.
In Gießen halten die Busse kurz an. Ein Aktivist des dortigen Anti-Atom-Plenums steigt zu. Im Bus verteilt er Flugblätter mit der Ankündigung eines Workshops und einer Nachttanzdemo gegen Atomkraft.
Ich mache mich über meinen Proviant her. Bald ist die Thermoskanne mit dem Kaffe leer, während die Brötchen auch noch für die Rückfahrt reichen.
Auf der Autobahnraststätte reicht der Halt gerade für einen Besuch der Toilette und den Kauf einer Flasche Mineralwasser. Nach einer 20-minütigen Pause fährt der Bus wieder weiter.
Allmählich fiebere ich der Ankunft in Biblis entgegen. Werden wir genügend Mitstreiter sein, um eine machtvolle Demo auf die Beine zu bringen?
Gegen 11 Uhr hält der Bus am Stadtrand von Biblis an. Auf der „Pfaffenau“ sind Bänke und Lautsprecher aufgebaut. Hier erwartet die Demonstrierenden eine Kundgebung mit Reden und Musikbeiträgen.
Wir lassen uns auf einer Holzbank unmittelbar vor der Bühne nieder. Merkwürdigerweise bleibt die Zahl der Anwesenden aber sehr überschaubar. Die meisten gehen an der Wiese vorbei, auf der wir sitzen.
Irgendjemand behauptet, hier an der Pfaffenau werde bis zur Abfahrt der Busse ein Programm geboten, weil der zentrale Kundgebungsplatz an der Kirche für die vielen angereisten Demonstrierenden nicht ausreiche. Es seien viel mehr Leute gekommen, als auf dem Platz in der Ortsmitte unterzubringen sind.
Doch wir wollen auch dahin, wo alle sind. So folgen wir dem Strom der Leute, die auf die bebaute Siedlung zusteuern.
Auf den Straßen von Biblis sind nur Demonstrantinnen und Demonstranten unterwegs. Alle streben zur Stadtmitte hin.
Am Platz vor der Kirche hat sich eine größere Menschenmenge versammelt. Ich setze mich auf eine Bank und trinke aus der Wasserflasche.
Auf der Bühne kündigt jemand die Veranstaltung an. Etwa 13.000 Menschen seien schon in Biblis angekommen, berichtet er. Und noch kämen immer mehr.
Ein stolzes Gefühl beschleicht mich. Gleichzeitig bedaure ich, dass durch diesen übergroßen Andrang die ursprüngliche Planung zur Makulatur geworden ist.
Wieder und wieder fordert der Sprecher auf der Bühne die Anwesenden auf, ihre Fahrräder beiseite zu schaffen. Sonst reiche der Platz nicht für alle aus!
Ich fühle mich richtig hier. Als das Programm beginnt, gehen Matthias und ich näher zur Bühne. Auf dem Weg treffen wir Jochen, den wir zwischenzeitlich aus den Augen verloren hatten.
Zuerst singen Bernd Schlauch & Jan Folk politische Lieder. Gemeinsam mit dem Firmenchor des Kraftwerkherstellers Ulstom stimmen sie auch „Burli“ an. Allerdings enthält ihre gekürzte Version nur einen geglätteten Text.
Anschließend reden Ingo Hoppe von AKWende und Dr. Werner Neumann vom Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland (BUND). Beide haben auch vor 25 Jahren nach der Katastrophe in Tschernobyl an gleicher Stelle schon gegen die Atomkraft demonstriert.
Auch ich war damals schon mit dabei. Noch gut erinnere ich mich an die Messungen, die wir vom Allgemeinen Studierenden-Ausschuss (AStA) damals rund um die Mensa durchgeführt haben. Schwarze Punkte auf gelbem Kreis prangten damals an einigen Steintischen, an denen die Studierenden zuvor ihr Essen eingenommen hatten.
Anschließend singt Kai Degenhardt. Neben eigenen Liedern trägt der Hamburger Liedermacher auch das Lied von „den guten alten Zeiten“ vor, das sein Vater gut 50 Jahre zuvor getextet und komponiert hat.
Ich kenne dieses Lied von Franz Josef Degenhardt über das Leben nach einer Atomkatastrophe. Erstaunt stelle ich fest, dass sein Sohn dem Vater in Stimmlage und Gesang genauso gleicht wie im Aufbau seiner eigenen Liedtexte.
In ihrer Rede stellt Regina Hagen vom Darmstädter Friedensforum anschließend den Zusammenhang zwischen der angeblich friedlichen und der militärischen Nutzung der Atomenergie her. Der Betrieb von Atomkraftwerken verhelfe – ganz nebenbei – dazu, waffenfähiges Material für Atombomben zu gewinnen.
Ich erinnere mich an Anthony Guarisco, den ich 1984 bei Friedensaktionen zum „Fulda Gap“ kennengelernt habe. Der US-amerikanische Atomveteran hatte in den 50er Jahren im Bikini-Atoll als Soldat an Atomwaffenversuchen teilgenommen.Dadurch ist sein Rückgrat verschmolzen. Er wirkte wesentlich älter, als er wirklich war. Sein Leben hatte er seither dem Kampf gegen die militärische und die friedliche Nutzung der Atomkraft gewidmet.
Wo immer Anthony während unserer Rundfahrten durch Osthessen aus dem Bus ausstieg, fiel den vorher aggressiv wirkenden Polizisten die Klappe herunter. Wenn er mit seinem Gehstock auf sie zuging und ihnen erklärte, er sei ein „Nuclear Veteran“, verstummten sie und ihre Gesichter versteinerten sich.
Auf der Bühne kündigt die Moderatorin die „Iries“ an. Noch seien sie aber nicht so weit, doch gleich beginne ihr Konzert.
Um die Pause zu überbrücken, begeben Jochen und ich uns mit Matthias auf die Bühne. Mühsam klettere ich zwei hohe wackelige Stufen hinauf, bevor ich am Mikrophon stehe.Zu zweit singen Jochen und ich oben auf der Bühne die umgetextete Version von „Marmor, Stein und Eisen bricht“. Nach der ersten Strophe ist die erwartete Band dann so weit. Vorsichtig verlassen wir wieder die Bühne.
Durch ohrenbetäubenden Lärm gehen wir weit weg von der Musik. Mir ist diese Musik viel zu laut.
Die jungen Leute hingegen haben sich direkt vor der Bühne versammelt. Viele von ihnen sind begeisterte Fans der „Irie Revoltés“. In einer Mischung aus Deutsch und Französisch spielen die Heidelberger Reggae-Dancehall-Ska mit politischen Texten.
Was ich von ihren Texten verstehe, gefällt mir gut. Von der Bank aus, wo wir uns nun wieder niedergelassen haben, ist die Musik durchaus angenehm.
Gegen 16.15 Uhr endet die Kundgebung an der Kirche. Nun soll es zum „Gräberfeld“ gehen, wo Kreuze zum Gedenken an die Atomopfer aufgestellt werden sollen.
Wir machen uns auf den Weg. Unterwegs begegnen wir Leuten aus unserem Bus. Als sie erklären, dass das Gräberfeld noch 20 Minuten weit entfernt liege, beschließen wir, auf den Gang dorthin zu verzichten.
Um 17.15 Uhr soll der Bus nach Marburg zurückfahren. Etwa zehn Minuten wird der Fußmarsch zur Pfaffenau wohl dauern.
Unterwegs begegnen wir einer Gruppe Demonstrierender. Sie wollen alle drei Strophen von „Marmor, Stein und Eisen bricht“ hören. Wir bleiben stehen und singen.
Dann gehen wir weiter zur Pfaffenau. Auf den Straßen von Biblis sind nur Demonstrantinnen und Demonstranten unterwegs. Alle streben zu ihren Bussen hin.
Gegen 16.50 Uhr erreichen wir unseren Bus. Ermattet steige ich ein und begebe mich zu meinem unbequemen Platz über dem Radkasten.
Die Abfahrt des Busses hatte Gesa vom Anti-Atom-Plenum für 17.15 Uhr angekündigt. Tatsächlich wird es 17.30 Uhr, bis der Bus wirklich aufbricht.
Leise Unterhaltungen prägen die Stimmung der Fahrgäste. Fast alle wirken müde.
An der Raststätte „Wetterau“ gibt es wieder einen Halt. Die meisten Mitreisenden verlassen den Bus.
Matthias, Jochen und ich bleiben direkt vor der Tür. Wir unterhalten uns mit zwei jungen Frauen, die dort ebenfalls darauf warten, dass es möglichst bald weitergeht.
Als es Zeit für die Nachrichten ist, dreht der Busfahrer das Radio laut. Von 10.000 Demonstrierenden ist die Rede.“Tiefstapler“, rufe ich. Bei der Demo selbst hatte Hoppe von mehr als 13.000 Teilnehmenden gesprochen. Danach waren immer noch weitere Menschen hinzugekommen.
Auf allgemeinen Wunsch singt Jochen dann im Bus noch einmal den „Burli“. Die skurile Beschreibung des Atom-Mutanten sorgt wieder für Stimmung. Außerdem trägt Jochen – im Gegensatz zu der Aufführung bei der Demonstration selbst – den gesamten Text einschließlich des Schlussgags vor.
Meine Brötchen habe ich nun alle aufgegessen. Auch die Wasserflasche ist leer. Ohne das Wasser wäre ich wohl nicht ganz so zufrieden, bin ich auf dem Weg durch Biblis wegen der strahlenden Sonne doch ordentlich ins Schwitzen geraten.
Gegen 19.20 Uhr hält der Bus wieder unter der Autobahnbrücke beim Marburger Hauptbahnhof an. Die Insassen steigen aus und verabschieden sich voneinander: „Bis zur nächsten Demo!“
Zügig gehen wir heim. Meine Füße schmerzen ein wenig, doch ich bin zufrieden mit diesem Tag. Hoffentlich werden wir die Erfüllung unserer Hauptforderung schon bald erleben: „Abschalten, und zwar jetzt und zwar alle und für immer!“
Franz-Josef Hanke