Gegendemonstranten massiv behindert – Dokumentation zur Rolle der Stadt Gießen beim Nazi-Aufmarsch am 16. Juli 2011

Politisch und rechtlich verantwortlich für die Geschehnisse vom 16. Juli 2011 ist und war die Oberbürgermeisterin der Universitätsstadt Gießen als örtlich zuständige Versammlungs- und Polizeibehörde. Sie ließ sich zum Büttel der Strategie der Verantwortlichen des Polizeipräsidiums Mittelhessen und der hessischen Landesregierung machen.

Deren Plan bestand darin, den Neofaschisten mit allen Mitteln – notfalls auch mit Gewalt – das Marschieren im Bereich der Gießener Innenstadt zu ermöglichen. Diese Polizeibehörden handelten ohne jede demokratische Legitimation unter Missachtung des Grundgesetzes und der Hessischen Verfassung.

Entweder rechtfertigen sie sich gar nicht oder mit dem fadenscheinigen Argument, das Versammlungsrecht von etwa 100 Neofaschisten habe Vorrang vor dem ebenfalls verfassungsrechtlich verbrieften Versammlungsrecht von mehreren Tausend Gegendemonstranten, die sich „nie wieder Faschismus“ und Krieg wünschen und dafür friedlichen Widerstand leisten. So kam es zum Einsatz von 3.000 bis 4.000 Polizeikräften, die auf Kosten des Steuerzahlers gegen überzeugte Antifaschisten eingesetzt worden sind. Nichts anderes wiederholte sich am 3. September.2011 in Dortmund.

Schon früh zeichnete sich die Strategie der Verantwortlichen in Gießen ab. Es kam darauf an, die Gegenbewegung zum frühest möglichen Zeitpunkt zu schwächen.

Zum Einsatz kamen die üblichen Mittel der Funktionalisierung Gutgläubiger, der gezielten Falschinformation, der Kriminalisierung und der Spaltung. Dabei gelang es, Ängste zu schüren und reaktionäre Kräfte innerhalb der bürgerlichen Parteien und der Kirchen zu mobilisieren, um die antifaschistische Bewegung – vor allem mit Unterstützung der beiden bürgerlichen Tageszeitungen Gießens – in „Gute“ und „Schlechte“ aufzuteilen.

Allein das erinnert fatal an die Zeit vor 1933 und zeigt vor allem, dass die Bürgerlichen und die Amtskirchen anscheinend keine Lehren aus der Geschichte gezogen haben. Lieber nehmen sie das Wiederaufleben des Faschismus in der Form des Extremismus der Mitte in Kauf, als mit linken Antifaschisten konsequent gegen Rassisten, Antisemiten und erklärte Ausländerfeinde vorzugehen.

Das war auch die Motivationslage eines Briefs der Humanistischen Union vom 30. März 2011:

„… Sehr geehrte Frau Oberbürgermeisterin Grabe-Bolz,

für den 16. Juli 2011 haben die NPD und die Jungen Nationalen (JN) angekündigt, in Gießen unter dem Motto Das System ist am Ende, wir sind die Wende zu demonstrieren. Seit Jahrzehnten versuchen die Nazis, die Unzufriedenheit großer Teile der Bevölkerung mit den Folgen der etablierten Politik für ihre rassistischen und ausländerfeindlichen Zwecke zu instrumentalisieren. Diesen Tendenzen muss entscheiden entgegen getreten werden. Aufmärsche, wie diejenigen der Nazis in Wetzlar am 11. Oktober 2008 und in Friedberg am 7. November 2009 dürfen sich nicht wiederholen. Sie dienen der Verankerung neofaschistischen Gedankenguts in der Gesellschaft und der gewaltbereiten rechten Szene.

Welche Folgen hingegen das Gelingen einer Neonazidemonstration haben kann, zeigt das Beispiel Wetzlar: Nachdem dort im Oktober 2008 rund 350 Neonazis nahezu ungehindert marschieren konnten, folgte eine massive Stärkung der rechten Szene in und um Wetzlar. Einige junge TeilnehmerInnen, die auf dieser Demonstration erstmals offen in Erscheinung traten, verübten schließlich im März 2010 einen Brandanschlag auf das Haus eines Pastoralreferenten, der sich im Wetzlarer Bündnis gegen Nazis engagiert. Die Täter sind inzwischen vom Landgericht Limburg u. a. wegen versuchten Mordes zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden. Ihre Vordenker hoffen nun auf weitere Gefolgschaft in Gießen.

Ich sehe keinen Sinn darin, Naziaufmärsche vom Ordnungsamt verbieten zu lassen, wenn die dann vom Gericht per einstweiliger Verfügung wieder erlaubt werden, hat Oberbürgermeister Wolfram Dette (FDP) auf den Vorwurf geantwortet, die Stadt hätte mit einem Verbot gegen den Aufmarsch von 300 Rechtsextremen am 11. Oktober 2008 vorgehen müssen. Dies berichtete die WNZ am 21.11.2009 über eine Podiumsdiskussion, an der auch ich teilnahm. Der Position von Herrn Dette musste ich als überzeugter Antifaschist entgegen treten. Sie ist falsch, auch wenn während dieser Veranstaltung sowohl Herr Oberbürgermeister Dette als auch Herr Landrat Schuster versicherten, dass sich ein Aufmarsch wie derjenige vom 11. Oktober 2008 nicht wiederholen dürfe.

Der wieder aufkeimende Neofaschismus mit seinen kriminellen Gewaltexzessen kann nicht mit juristischen Mitteln beantwortet werden. Diese Tendenzen verlangen entschiedenes politisches Handeln. Vom gemeinsamen Willen der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung getragene politische Maßnahmen werden der zunehmenden Ausweitung der gewaltbereiten rechten Szene die gesellschaftliche Grundlage entziehen. Wo ein entsprechender politischer Wille ist, ist auch ein Weg.

Es ist eine politische Entscheidung, ob alle juristischen Mittel ausgeschöpft werden, um Naziaufmärsche der in Gießen geplanten Art zu verhindern. Die Judikative, deren trauriges Auftreten in der Zeit von 1933 bis 1945 und teilweise in der Zeit danach nicht in Vergessenheit geraten ist, wird das akzeptieren müssen. Es ist keine Stärke des Rechtsstaates oder der Demokratie, wenn solche Naziaufmärsche von der Judikative zugelassen werden, sondern auf dem Hintergrund der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts ein Armutszeugnis.

Die im Urteil des Verwaltungsgerichts Gießen vom 20.09.2010 – 9 K 1059/10.GI – geäußerten Ansichten müssen auf diesem Hintergrund nicht geteilt werden. Juristisch sind sie als umstritten zu bezeichnen, insbesondere wenn die Richter der 9 Kammer des Verwaltungsgerichts pauschal ausführen, es sei verfassungsrechtlich geklärt, die Gegendemonstranten, die mit ihrer Blockade des Aufzugs des NPD-Landesverbandes Hessen am 01.08.2009 in Friedberg ein politisches Zeichen hätten setzen wollen, sich nicht ihrerseits auf den Schutz des Art. 8 I GG hätten berufen können. Die in diesem Zusammenhang vom Verwaltungsgericht Gießen zitierte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 11.06.1991 ist offensichtlich nicht einschlägig. Sie bezog sich auf eine öffentliche Versammlung in einer Gaststätte und eine nicht angemeldete Gegendemonstration. Ebenso soll die Versammlung zur Blockade des Naziaufmarsches in Friedberg nicht angemeldet worden sein, was ich schon aus tatsächlichen Gründen in Zweifel stelle.

Unter diesen Umständen appelliere ich an Sie als Vertreterin der zuständigen örtlichen Ordnungs- und Versammlungsbehörde: Verdeutlichen Sie ihren klaren politischen Willen, den für den 16.07.2011 geplanten Naziaufmarsch auch mit allen verfügbaren juristischen Mitteln zu verhindern. Nehmen Sie das Risiko einer nicht auszuschließenden juristischen Niederlage bewusst in Kauf. Bitte bedenken Sie bei Ihrer Entscheidung, dass schon das unterlassene juristische Vorgehen gegen diesen Aufmarsch von den Neofaschisten als Erfolg und Aufmunterung verstanden werden könnte, sich weiter in Mittelhessen und Gießen breit zu machen. Diesen juristischen Widerstand geleistet zu haben, gehört nach meiner Ansicht zu Ihren – auch historisch bedingten – Amtspflichten. Er kann Ihnen nicht zum Vorwurf gereichen, sondern wird dahin zu werten sein, dass Sie Ihren guten politischen Willen gezeigt haben.

Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!

Für evtl. Rückfragen stehe ich selbstverständlich gerne zur Verfügung. …“

Dieser Brief erfuhr folgende Antwort:

„… für Ihr Schreiben vom 31.03.2011 danke ich Ihnen. Der angestrebte Nazi-Aufmarsch erfüllt uns alle mit Sorge. Bisher haben wir es geschafft, dass rechtsradikales Gedankengut keinen Platz in unserer Stadt gefunden hat. Wir als Stadt haben es in der Hand, ob die Demonstration zunächst verboten wird.

Als Jurist wissen Sie, dass solche Verbote in nahezu 100% der Fälle keiner gerichtlichen Entscheidung Stand gehalten haben. Dies kann dazu führen, dass die NPD durch eine solche Entscheidung zusätzlichen Auftrieb erhält.

Natürlich kann auch die von Ihnen vorgetragene Taktik verfolgt werden. Jedenfalls bin ich der festen Überzeugung, dass es hierbei weder richtig noch falsch gibt.

Besonders hervorheben möchte ich den gesellschaftlichen Protest, der sich mittlerweile in Gießen organisiert. Ich bin sehr stolz, wie viele Vereine, Gruppierungen und Institutionen sich zusammengeschlossen haben und so versuchen, die Nazis gewaltfrei aus der Stadt zu halten. Dieses unterstütze ich aktiv und würde mich freuen, wenn Sie sich auch dem Bündnis Gießen bleibt bunt anschließen.

Die Kontaktdaten lauten:
EVANGELISCHE FLÜCHTLINGSSEELSORGE GIESSEN
Pfarrer Hermann Wilhelmy

…Lassen Sie uns gesellschaftlich und politisch dafür kämpfen, dass Nazis und rechtsradikales Gedankengut keinen Platz finden! …“

Der Inhalt dieser Antwort spricht für sich selbst. Aus mehreren Protokollen geht hervor, wes Geistes Kind Hermann Wilhelmy ist.

Nach seiner Ansicht werden die Neofaschisten nur durch eine intensive Zusammenarbeit mit der Vollzugspolizei bekämpft. Am 24. Mai.2011 setzte er friedliche Blockaden mit Gewalt gleich und meinte: „Wir sind gegen Blockaden, und Gewalt wird abgelehnt!“

Eine weiterer Kirchenvertreter erklärte auf der gleichen Versammlung: „Aus der Sicht des Bündnisses handelt es sich um eine Provokation der Polizei, wenn sich Demonstranten wegtragen lassen!“

Die Oberbürgermeisterin der Universitätsstadt Gießen meinte also allen Ernstes, unsere Mitglieder sollten sich den Wegbereitern des Naziaufmarsches anschließen. Auf diesem Niveau nahm das Trauerspiel seinen Fortgang, wobei aus Platzgründen gar nicht alle Schändlichkeiten niedergelegt werden können.

Ins Licht der Öffentlichkeit gehört allerdings die Allgemeinverfügung der Oberbürgermeisterin der Universitätsstadt Gießen vom 12. Juli 2011:

“ … Amtliche Bekanntmachung der Stadt Gießen – Die Oberbürgermeisterin – Ordnungsamt

Allgemeinverfügung über ein Versammlungsverbot im Bereich des Bahnhofes Gießen für Samstag 16.07.2011

Gemäß § 15 Abs.1 des Gesetzes über Versammlungen und Aufzüge (VersG) in Verbindung mit § 35 des Hessischen Verwaltungsverfahrensgesetzes (HVwVfG) ergeht folgende Allgemeinverfügung:

1. Am 16. Juli 2011 sind in der Zeit von 06:00 bis 24:00 Uhr in dem räumlichen Geltungsbereich dieser Verfügung, Ziffer 3, Versammlungen und Aufzüge verboten.

Dies gilt nicht für die unter Ziffer 2 benannten Personen.

2.Das Versammlungsverbot nach Ziffer 1 gilt nicht für Personengruppen (mehr als eine Person), die sich auf direktem Weg und unverzüglich zu den öffentlichen Verkehrsmitteln (Züge, Busse, Taxen) oder von den öffentlichen Verkehrsmitteln in die Stadt begeben.

Ferner gilt das Versammlungsverbot nach Ziffer 1 nicht für Personengruppen, die ein besonderes persönliches oder berufliches Interesse (zum Beispiel: Berufstätigkeit oder Besorgungen auf dem Gelände oder Anliegergrundstücken, Anlieferungs- und Verladetätigkeiten, Besuche bei Verwandten, Freunde und Bekannten auf Anliegergrundstücken, Anliegergebrauch etc.) am Betreten des räumlichen Geltungsbereichs des Versammlungsverbotes oder den Verbleib in diesem Geltungsbereich haben.

3. Der räumliche Geltungsbereich wird durch folgende Straßen, Wege sowie Gleisanlagen, die eingeschlossen sind, begrenzt:

Gleisanlagen des Bahnhofs, westlich begrenzt durch den östlichen Rand der Straßen Margarethenhütte und „Am Güterbahnhof“ sowie das Ende der Überführung vom Bahnhof zum Park and Ride-Parkhaus an der Lahnstraße, nördlich begrenzt durch das südliche Ufer des Baches „Wieseck“, an dem Ufer entlang in östliche Richtung, dann weiter in südlicher Richtung an der Grenze des Postgebäudes mit der Tiefgarage am östlichen Rand der Gleisanlage, dann entlang der südlichen Außenwand des Gebäudes der Post in gerader Linie über die Bahnhofstraße bis zur westlichen Außenwand des Gebäudes Bahnhofstraße 91 (Alte Post), von dort entlang dieser Außenwand nach Süden und der südlichen Außenwand des Gebäudes nach Osten in gerader Linie bis zur westlichen Grenze des Platzes „An der alten Post“ (Flurstück 131/16), umfasst den gesamten Platz, führt in gerader Verlängerung von dessen nördlicher Grenze über die Gleisanlage bis zur westlichen Außenwand des Gebäudes Frankfurter Straße 20, von dort in südlicher Richtung entlang der westlichen Fluchten der Gebäude Frankfurter Straße 22, 24, und 26 zum nördlichen Rand des Alten Wetzlarer Weges bis zur Grenze des Grundstücks Alter Wetzlarer Weg 2 (Kiosk an der Brücke), von dort an der westlichen Grenze des Gebäudes in südwestlicher Richtung entlang der Fluchten der Gebäude Alter Wetzlarer Weg 2, 10 und 46 bis zur nördlichen Grenze der Klinikbrücke und von dort über die Main-Weser-Bahn bis zum östlichen Rand der Straße Margarethenhütte.
Mit in den Geltungsbereich eingeschlossen sind die Fußgängerüberwege vom rückwärtigen Bahnhofsbereich zum Parkhaus an der Lahnstraße und vom Bahnhofsvorplatz zum Alten Wetzlarer Weg.

Der konkrete räumliche Geltungsbereich kann nachrichtlich dem als Anlage beigefügten Plan entnommen werden.

4. Die sofortige Vollziehung des Versammlungsverbots, Ziffer 1, wird angeordnet.

Personen, die dem Versammlungsverbot keine Folge leisten, wird die Anwendung des unmittelbaren Zwangs angedroht.

5. Diese Allgemeinverfügung wird wirksam ab dem Tag, der auf die öffentliche Bekanntmachung folgt.

Der Text der Allgemeinverfügung mit Begründung und nachrichtlichem Plan des Geltungsbereiches kann beim Ordnungsamt der Stadt Gießen, Berliner Platz 1, 35390 Gießen, Raum 1-106, während der Sprechzeiten eingesehen werden.

Rechtsbehelfsbelehrung

Gegen diese Allgemeinverfügung kann innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe Widerspruch erhoben werden. Dieser kann schriftlich oder mündlich zur Niederschrift bei der Oberbürgermeisterin der Stadt Gießen, Ordnungsamt, Berliner Platz 1, 35390 Gießen, eingelegt werden.

Der Widerspruch hat keine aufschiebende Wirkung. Das Verwaltungsgericht Gießen, Marburger Straße 4, 35390 Gießen kann gem. § 80 Abs.5 VwGO auf Antrag die aufschiebende Wirkung wiederherstellen bzw. anordnen.

Gießen, den 12.07.2011 Im Auftrag …

Anlage
Nachrichtliche Übersicht über den räumlichen Geltungsbereich der Allgemeinverfügung
(Ziffer 2 der Allgemeinverfügung)
Die eingefärbte Fläche kennzeichnet den räumlichen Geltungsbereich …“

Der Inhalt dieser Allgemeinverfügung ist mit Bestürzung zur Kenntnis genommen worden.

Am 14. Juli.2011 versicherte ein Mitarbeiter der Versammlungsbehörde der Oberbürgermeisterin der Universitätsstadt Gießen, dass die Allgemeinverfügung keine Beschränkung des Versammlungsrechts bezwecke. Vielmehr sei es erklärtes Ziel der Verfügung, dass die erwarteten Gegendemonstranten so rasch wie möglich ihre angestrebten Versammlungsorte erreichen könnten.

Darauf bezieht sich das Schreiben der Humanistischen Union vom 15. Juli 2011:

“ … vielen Dank für Ihren gestrigen Anruf.

Mit Erleichterung habe ich zur Kenntnis genommen, dass die mit dem Zug anreisenden Gegendemonstranten durch den Inhalt der Allgemeinverfügung vom 12.07.2011 nicht daran gehindert werden sollen, die verschiedenen Versammlungsorte in Gießen zu erreichen. Es wird noch einmal ausdrücklich darum gebeten, die Einsatzleitung der Polizei über den Sinn und den Zweck der Allgemeinverfügung schriftlich zu unterrichten.

Einige der über 250 Initiativen befürchten nicht ganz zu unrecht, dass der Inhalt der Allgemeinverfügung der Polizei als Vorwand dienen könnte, mit der Bahn ankommende Gegendemonstranten daran zu hindern, die gewählten Kundgebungsorte in Gießen aufzusuchen. Es werden massive Verzögerungen durch ungerechtfertigte Kontrollen und sogar eine rechtswidrige Einkesselung einer Vielzahl von Personen – siehe Friedberg – befürchtet.

Diese Befürchtungen sind nicht unberechtigt. Vor allem die Gießener Polizei ist in einer beachtlichen Anzahl von Fällen dahingehend auffällig geworden, dass sie Bürgerrechte missachtete. Mehrmals mussten Gerichte bis hin zum Bundesverfassungsgericht feststellen, dass sich die Polizei in Gießen gegenüber Bürgern, die ihre Meinung friedlich äußern wollten, rechtswidrig verhalten hat. Dazu gibt es inwischen reichlich Veröffentlichungen. Ein lokales Beispiel finden Sie im Anhang. Im Übrigen verweise ich auf den Inhalt verschiedener Grundrechte-Reporte in den vergangenen Jahren.

Die Verantwortlichen der Polizei haben sich im Vorfeld der am 16.07.2011 stattfindenden Versammlungen gegenüber ausgesuchten Kreisen immer wieder unglücklicher Weise auf das Urteil des VG Gießen vom 20.09.2010 – 9 K 1059/10 GI berufen, gegen das der HessVGH bereits die Berufung zugelassen hat (VGH, Beschluss vom 16.03.2011 – 8 A 545/11 – 8 A 2256 bis 2258/10), weil u.a. entscheidungserheblicher Vortrag der Versammlungsbehörde übergangen worden ist.

Für den Fall, dass staatliche Stellen, insbesondere die Polizeikräfte den Versuch unternehmen sollten, die Anreise zum Ver­sammlungsort zu verhindern oder zu behindern, soll verwaltungsgerichtliche Hilfe in An­spruch genommen werden, weil schon die Anreise zum Versammlungsort und das Aufsuchen der Kundgebungsorte von Art. 8 GG geschützt ist (so schon BVerfGE 84, 203, 209).

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und Ihr Verständnis. …“

Die schriftliche Bestätigung folgte auf dem Fuß:

„… nach unserem gestrigem Telefonat und dem anschließenden Gespräch mit Herrn XXX (Anm.: Name entfernt!) habe ich heute Morgen zuerst mit der Einsatzleitung der Polizei telefoniert und dabei unmissverständlich klar gestellt, dass aufgrund der Allgemeinverfügung keine Personen daran gehindert werden dürfen (es sei denn sie werden z. B. durch Sachbeschädigung auffällig, was dann aber nicht in Zusammenhang mit der Verfügung zu setzen ist), das Bahnhofsgelände zu verlassen. Auch die Polizei ließ keine Zweifel an dieser Vorgehensweise. Natürlich kann es dazu kommen, dass im Bahnhofsbereich gegnerische Gruppen getrennt und separat vom Bahnhofsgelände begleitet werden. Aber auch das soll auf dem kürzesten und schnellsten Wege geschehen. Oberstes Prinzip sowohl bei der Polizei, wie auch bei der Versammlungsbehörde ist, dass der Bahnhofsbereich frei wird.

Auch ist der Polizei bewusst, dass es den Versammlungsteilnehmern ermöglicht werden muss, zu ihren Kundgebungsorten zu kommen. Dafür wurden auch bereits während der durchgeführten Kooperationsgespräche und teilweise auch in den Auflagenverfügungen entsprechende Empfehlungen und Hinweise gegeben.

Am Samstag wird im übrigen die Versammlungsbehörde den ganzen Tag über u. a. in der Einsatzleitzentrale anwesend sein und dabei auch darauf achten, dass die polizeilichen Maßnahmen angemessen und gerechtfertigt sind.

Übrigens: EKHK Klingelhöfer nicht mehr bei der Polizei in Gießen.

Sollten noch irgend welche Fragen aufkommen, stehe ich Ihnen gerne zur Klärung zur Verfügung, soweit es in meinen Möglichkeiten steht. …“

Die Ereignisse am Folgetag zeigten, was von den vollmundigen Erklärungen der Vertreter der Oberbürgermeisterin der Universitätsstadt Gießen zu halten war. Die HU schrieb am 16.07.2011 um 08:50 Uhr:

„… seit etwa 07:00 h ist die Ausfahrt Heuchelheim der E 44 / B 429 in Richtung Innenstadt voll gesperrt. Auf diese Weise wird die Anreise zu den Versammlungsorten in der Weststadt behindert bzw. unmöglich gemacht. Die beiden Brücken über die Lahn (Heuchelheimerstraße und Rodheimerstraße) sind ebenfalls voll gesperrt, so dass die Versammlungsorte in der Weststadt nicht erreichbar sind. Sie sind unter der Nummer 306-2406 nicht erreichbar. Die mir als Nummer der Einsatzleitung mitgeteilte Nummer 7006-3274 ist ebenfalls nicht besetzt. Eine verantwortliche Person ist derzeit nicht ansprechbar, um den Grundrechten der Gegendemonstranten Gehör zu verschaffen. Ich möchte Sie daher auf diesem Weg auffordern, auf die Polizeibehörden im Sinne Ihrer eindeutigen Erklärungen einzuwirken, damit die Behinderung der Anreise der Versammlungsteilnehmer unverzüglich beendet wird. …“

Um 9.44 Uhr antwortete die Leiterin der Versammlungsbehörde der Oberbürgermeisterin der Universitätsstadt Gießen wie folgt:

„… über Umwege hat uns Ihre mail erreicht. Hinsichtlich der von Ihnen geschilderten Umstände teilen wir Ihnen folgendes mit:

Es wurde mit der Polizei gesprochen, aus einsatztaktischen Gründen wird die Situation bleiben wie sie ist. Die Argumentation der Polizei ist nachvollziehbar und zwingend. Darüberhinaus sind alle Versammlungsorte erreichbar, wenn auch wie Ihnen bekannt, ist über Umwege. Die Umwege sind mit allen besprochen, sie sind nochmals veröffentlicht. Eine Verletzung des Versammlungsrechts ist nicht ersichtlich. Diese mail wurde von einem Computer der Polizei gesendet. …“

Mehr als tausend Gegendemonstranten wissen den Wahrheitsgehalt dieser Aussagen zu würdigen. Nicht nur am Giessener Hauptbahnhof kam es zu massiven – zum Teil gewaltsamen – Behinderungen von Gegendemonstranten durch Polizeikräfte. Viele Antifaschisten erreichten die angestrebten und angemeldeten Kundgebungsorte nicht.

Am 16.Juli 2011 ist deshalb um 11.33 Uhr eine Spontanversammlung angemeldet worden. In dem Anmelderschreiben heißt es:

„… soeben bin ich beauftragt worden, für die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes eine spontane Versammlung anzumelden. Sie richtet sich gegen die massiven Einschränkungen des Versammlungsrechts durch die Polizei ab heute morgen gegen 06.30 h. Die Kundgebung beginnt in 15 Minuten. Als Route des Protestmarsches ist mir folgende Linie mitgeteilt worden: Rodheimerstraße, Sachsenhauser Brücke, Lahnstraße, Gabelsbergerstraße … Die zentrale Versammlung mit Redebeiträgen soll auf der genannten Brücke stattfinden….“

Der Leser wird nach alledem verstehen, dass auch diese Versammlung nicht stattfinden konnte, weil sie von den vor Ort eingesetzten Polizeikräften mit Gewalt verhindert worden ist. Der ansässige Polizeiführer behauptete sogar noch mehr als eine Stunde nach der Anmeldung, nichts von einer angemeldeten Spontanversammlung zu wissen. Natürlich wusste er, dass spontane Versammlungen keiner Anmeldung bedürfen.

Für all das – und noch viel mehr – trägt die Oberbürgermeisterin der Universitätsstadt Gießen die alleinige politische und rechtliche Verantwortung. Ihr Handeln fügt sich nahtlos ein in das Vorgehen der Gießener Justiz und der örtlichen Polizei.

Tronje Döhmer

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