Der Bahnsteig ist brechend voll mit Menschen. Während wir auf unseren Zug warten, verkündet der Lautsprecher die Verspätung des vorausfahrenden Regional-Express (RE). Wahrscheinlich werden auch wir noch einige Zeit länger warten müssen.
Ziel unserer Bahnfahrt ist Lollar. Dort soll am Samstag (14. April) eine Demonstration unter dem Titel „Das Problem heißt Rassismus – antifaschistisch denken, handeln, leben“ stattfinden.
Mit einer guten Viertelstunde Verspätung fährt nach dem RE schließlich auch unsere Bahn ein. Mühsam steige ich in die ehemalige Frankfurter S-Bahn ein, die seit einigen Jahren als „Mittelhessen-Express“ zwischen Traysa und Frankfurt pendelt.
Kurz nach 10 Uhr verlässt die Bahn den Marburger Hauptbahnhof. Regulär hätte sie dort bereits um 9.49 Uhr losfahren sollen.
Uns macht das aber nichts aus. Wir haben reichlich Zeit einkalkuliert, die wir nun eben auf dem Bahnsteig des Marburger Hauptbahnhofs statt in Lollar verbringen.
Um 11 Uhr soll die Demonstration beginnen. In großem Bogen soll der Zug einmal rund durch Lollar laufen, bevor er am dortigen Bahnhof mit einer Abschlusskundgebung endet.
Jahrelang war ich nicht mehr in Lollar. Mein Begleiter ist sogar noch nie in seinem Leben dort gewesen. Demonstrationen dürfte es dort auch nicht alle Tage geben, vermuten wir.
Grund für die Wahl des Demonstrationsorts sind Hakenkreuze und nationalsozialistische Parolen, die seit Beginn des Jahres 2012 verstärkt in Lollar und seiner Umgebung aufgetaucht waren. Dem zunehmenden Wirken von Neonazis wollen die Demonstrierenden mit ihrem Protest entgegentreten.
Auch wir haben uns deshalb von Marburg aus auf den Weg nach Lollar gemacht. Gegen 10.15 Uhr steigen wir auf einen menschenleeren Bahnsteig aus, wo wir den Weg nach draußen erst suchen müssen.
Vor dem Bahnhof befindet sich ein Parkplatz. Dort soll die Demonstration gegen 11 Uhr beginnen.
Da wir noch reichlich Zeit haben bis dahin, machen wir uns auf den Weg in den Ort. Doch nach wenigen Minuten hält ein entgegenkommendes Auto direkt bei uns an.
Vier Leute steigen aus. Einer von ihnen ist der Gewerkschaftssekretär Dr. Ulf Immelt.
Ulf begrüßt mich freundlich. Auch die anderen strecken uns ihre Hände entgegen und stellen sich mit Vornamen vor. Eine Stimme kommt mir bekannt vor.
Weitere Autos kommen die Straße zum Bahnhof herauf und halten am Straßenrand an. Die Insassen steigen aus und gesellen sich hinzu zu der Gruppe, die nach und nach auf über 20 Personen anschwillt.
Es ist gerade einmal 10.40 Uhr, verrät mir mein Begleiter. Doch der Parkplatz vor dem Bahnhof bevölkert sich mehr und mehr, sodass die angeregten Unterhaltungen vieler Menschen einen leisen Geräuschteppich bilden.
Ein Lautsprecherwagen ist inzwischen auch eingetroffen. Der Lärm von Hipphopp-Musik und ein Sprechtest übertönen die bisherige Geräuschkulisse deutlich.
Wir halten Ausschau nach einem Bekannten, der uns über die Demo informiert hatte. Doch er ist nirgends zu sehen.
Dann ertönt eine Lautsprecherdurchsage mit kurzen Anweisungen zum Verlauf der Demo. Der Zug setzt sich in Bewegung.
Zwischenzeitlich sind größere Gruppen von Menschen mit Zügen aus beiden Richtungen am Bahnhof Lollar angekommen. Dicht an mir vorbei knattert ein gutes Dutzend Motorräder, auf denen sich ebenfalls Demonstrationsteilnehmer zum Veranstaltungsort bewegen.
Ein richtig dichter Demonstrationszug zieht nun die Lollarer Bahnhofstraße hinab und unterquert die Eisenbahnunterführung. Direkt dahinter findet die erste Zwischenkundgebung statt.
Jemand verliest den Text des Aufrufs: „Ende letzten und Anfang diesen Jahres tauchten im Kreis Gießen und Marburg Nazi-Schmierereien auf. In mehreren Orten rund um Allendorf / Lumda, Rabenau und Lollar sowie Ebsdorf und Weimar wurden Friedhöfe mit Nazi-Parolen und -symbolen beschmiert und teilweise Gräber beschädigt. Bereits seit mehreren Jahren sind in dieser Region immer wieder Nazi-Aufkleber und sprühereien zu sehen.“
Den Text des Aufrufs kenne ich bereits. Dennoch höre ich genau hin, weil er eine Erklärung für unsere Protestaktion liefert.
„In Lollar kam es gleich zweimal zu solchen Schmierereien“, liest der Redner weiter. „Sowohl auf dem jüdischen Friedhof in Odenhausen als auch an der ezidischen Gemeinde Hessen wurden Symbole mit NS-Bezug gesprüht.“
Mein Begleiter und ich stimmen den Ausführungen schweigend zu, die der Mann im Lautsprecherwagen nun aus dem Aufruf vorliest. Darin begründet er die Notwendigkeit des Protests gegen die Umtriebe von Neonazis.
„Unserer Meinung nach wird es Zeit, auf die Nazis vor Ort aufmerksam zu machen; und wir fordern die BewohnerInnen der Region dazu auf, sich den Nazis – aber auch dem alltäglichen Rassismus – entgegenzustellen. Es ist für uns nicht weiter hinzunehmen, dass Nazis ohne jegliche Konsequenz uneingeschränkt ihr menschenverachtendes Weltbild nach außen tragen können.“
Nachdem der junge Mann den Text verlesen hat, setzt der Zug sich wieder in Bewegung. In der dichten Menschenmenge muss ich aufpassen, damit ich den Mitdemonstrierenden in der Reihe vor mir nicht in die Haxen trete.
Seit mehreren Jahren taucht eine Clique junger Nazis aus dem Kreis Gießen und dem Vogelsberg bei diversen Veranstaltungen mit eindeutig neonazistischen T-Shirts auf. Ab ungefähr 2008 haben sie versucht, sich unter dem Namen „Division Mittelhessen“ zu organisieren.
Nun aber haben die Nazis sich überall mit ihren Schmierereien breit gemacht. Selbst auf dem jüdischen Friedhof haben sie Hakenkreuze hinterlassen. Das hat mich ebenso wie meinen Begleiter dazu bewegt, an der Demonstration in Lollar teilzunehmen.
2010 gingen die „Freien Nationalisten Lumdatal“ mit einer Homepage an die Öffentlichkeit. Auf Intervention antifaschistischer Gruppen wurde diese Internetpräsenz zwischenzeitlich aber wieder gelöscht.
Umso wichtiger scheint mir also die Gegenwehr gegen neofaschistische Umtriebe gleich von Anfang an zu sein. Deswegen nehme ich auch die laute und aggressive Musik in Kauf, die der Lautsprecherwagen hinter mir den Demonstrierenden und den Bürgern von Lollar in die Ohren dröhnt.
Ein Chor junger Leute weiter vorne im Demonstrationszug ruft, er wolle die „Nazis von der Straße kehren“. Außerdem beschwert er sich über „die Nazi-Pest“.
Diese Wortwahl gefällt mir ganz und gar nicht. Meines Erachtens sollte man den Neonazis nicht mit Sprüchen begegnen, die Menschen ebenso zur „Pest“ herabwürdigen oder „von der Straße kehren“ wollen, wie es einst die Nationalsozialisten mit Juden, Roma und Sinti, Behinderten, Kommunisten, Sozialdemokraten, Homosexuellen oder überzeugten Christen machen wollten.
Mehr als sechs Millionen Menschen wurden zwischen 1933 und 1945 vom nationalsozialistischen Gewaltregime unter Adolf Hitler ermordet. Menschen wurden als angeblich „lebensunwertes Leben“, als vermeintlich „unnütze Esser“ oder „Volksschädlinge“ diffamiert und der Vernichtung preisgegeben.
So etwas öchte ich nie erleben müssen. Deshalb bin ich in Lollar mit dabei.
Langsam schlängelt sich der lange Zug der Demonstrierenden durch die schmalen Straßen des mittelhessischen Städtchens. Vorne im Zug rufen die jungen Leute von der „Antifa Gießen“ ihre Parolen. Am Ende des Zugs spielt der Lautsprecherwagen dröhnende Hipphopp-Musik.
Eine Hand legt sich plötzlich von hinten auf meine Schulter. Unser Bekannter, den wir am Bahnhof vergeblich gesucht hatten, hat uns gefunden.
„Ursprünglich hatten wir mit 100 bis 120 Teilnehmern gerechnet“, erklärt er. „Nun ist es deutlich mehr als das Doppelte geworden.“
Mit gut 300 Mitdemonstrierenden sind hier wohl alle zufrieden. Jedenfalls ist die Stimmung bestens bei den vielen Leuten rings um uns herum. Mütter mit Kindern laufen ebenso neben mir wie junge Studentinnen und Studenten oder Metaller im Rentenalter.
An einer Straßenecke und beim Rathaus gibt es weitere Zwischenkundgebungen. Wieder und wieder verlesen die Leute im Lautsprecherwagen dabei den Aufruf und einen weiteren Redetext, der offenbar vorher gemeinsam vorbereitet worden ist.
Auch wenn ich diese Aussagen schon kenne, applaudiere ich zum Schluss immer. Schließlich richtet sich der Vortrag vor allem ja an die Menschen in Lollar, die gelegentlich ihre Fenstr öffnen und auf uns herabblicken.
Durch die Hauptstraße ziehen die Demonstrierenden wieder zurück zum Bahnhof. Direkt unter der Eisenbahnbrücke findet die Abschlusskundgebung statt.
Mein Begleiter und ich drücken uns durch die Menge zur Seite. Wenn wir uns ein wenig beeilen, erreichen wir noch den Zug um 12.46 Uhr zurück nach Marburg.
Auf den beiden Bahnsteigen stehen einige wenige Fahrgäste. Von Weitem ist – ein wenig undeutlich – die Rede bei der Abschlusskundgebung über den Lautsprecher zu hören, bis sie schließlich aufhört.
Die Kundgebung scheint zu Ende zu sein. Wir haben also nichts verpasst.
Kurze Zeit später kommt eine Gruppe junger Leute auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig an. Seelenruhig überqueren sie das Gleisbett und kommen zu unserem Bahnsteig herüber, anstatt – wie wir – durch die Unterführung zu gehen.
Diese Unterführung ist wirklich ziemlich desolat, finde ich. Der Handlauf stimmt nicht mit den Stufen der Treppe überein, was mir das Treppensteigen vor allem abwärts erheblich erschwert hat. Dennoch halte ich die Abkürzung über das Schotterbett der Gleise für sehr gefährlich.
Gleiches hat offenbar auch ein älterer Beamter der Bundespolizei gedacht. Gemeinsam mit einer jungen Kollegin überquert auch er nun die Schienen, um sich drohend vor den jungen Leuten aufzubauen. Für das Überschreiten der Gleise verlangt er von ihnen ein Bußgeld von 25 Euro pro Person.
Mein Begleiter zieht mich ein wenig zur Seite. Dann amüsiert er sich leise darüber, dass die Polizisten genau das Gleiche getan haben, wofür sie von den jungen Leuten eine Strafgebühr verlangen.
Während einer der jungen Männer seelenruhig – aber trotzig – mit dem älteren Polizisten argumentiert, steht die junge Polizeibeamtin still daneben. Ihr weißhaariger Kollege indes gerät mehr und mehr in Erregung. Alle anderen, die inzwischen durch die Unterführung auf den Bahnsteig gekommen sind, versuchen, zu deeskalieren.
Dann läuft der Zug nach Marburg ein. Vorsichtig steigen wir ein. die Polizisten und ihre Opfer bleiben zurück.
Gut zehn Minuten später erreicht der Mittelhessen-Express den Marburger Hauptbahnhof. Eine größere Gruppe antifaschistischer Demonstrantinnen und Demonstranten verlässt den Zug.
Auch wir machen uns auf den Weg nachhause. Auf die Frage meines Begleiters, ob die Beteiligung an der Demo etwas gebracht hat, antworte ich ihm entschieden: „Wir haben zumindest etwas getan und nicht nur herumgeredet.“
Franz-Josef Hanke