Demokratie in der Pandemie: Nicht den Teufel mit Beelzebub austreiben

Wut macht sich breit in mir. Verharmlosende Äußerungen oder gar Verschwörungsmythen über Dorona kann ich kaum mehr ertragen.
Fünf Corona-Todesfälle innerhalb von 24 Stunden meldete der Landkreis Marburg-Biedenkopf allein am Dienstag (5. Januar). Nach einem Treffen der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidenten der Bundesländer verkündete Angela Merkel drastische Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie. Dazu zählen eine weitere Einschränkung der „erlaubten“ Kontakte und bei einer Inzidenz von mehr als 200 eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit auf 15 Kilometer rund um den Wohnort.
So notwendig und unerlässlich ich den konsequenten Lockdown finde, so sehr sorge ich mich um einige liebe Mitmenschen, die unter starken psychischen Problemen leiden. Schon die Begerenzung auf wenige Kontakte hat sie arg gebeutelt. Jede weitere Einschränkung ist für sie eine zusätzliche Belastung, die ihr gebeuteltes Gemüt ganz und gar aus dem Gleichbewicht bringen kann.
Gleichzeitig haben deutsche Gesundheitsämter dem Robert Koch-Institut (RKI) am Dienstag (5. Januar) insgesamt 21.237 neue Infektionen und 1.019 weitere Todesfälle im Zusammenhang mit dem Coronavirus gemeldet. Auch das bereitet mir sehr große Sorgen. Seit Anfang März 2020 befinde ich mich als „Risikoperson“ bereits weitgehend in häuslicher Isolation.
Mein täglicher Bewegungsradius beschränkt sich seither zumeist auf die 86 Quadratmeter meiner Wohnung. Täglich gehe ich 25 Mal von einem Zimmer durch alle anderen bis zum entferntesten Zimmer und dann wieder zurück. Zum letzten Mal verlassen habe ich meine wohnung Mitte November.
Wenn ich Meldungen von einem Massenansturm auf Winterberg, den Feldberg, den Schwarzwald und den Harz oder andere Wintersportgebiete höre, packt mich ungläubiges Erstaunen und Wut. Wenn ich im Frühjahr oder auch jetzt Leute über ihre Urlaubspläne im Ausland reden höre, werde ich zornig. Zum letzten Mal Urlaub gemacht habe ich vor 14 Jahren.
Manche Menschen meinen, ihre Freiheit bestünde in einem angeblichen Recht, uneingeschränkt dem eigenen Genuss zu huldigen. Dieser hedonistische Egoismus macht mich traurig und ärgerlich zugleich. Nur diese ignorante Dummheit ist daran schuld, dass die Regierenden Maßnahmen verfügen müssen, damit sich überhaupt genügend Menschen daran halten.
Offensichtlich reicht Einsicht immer noch nicht aus, um hinreichend Zeitgenossen zu einem bescheideneren Lebensstil zu bewegen und vor allem zu mehr Rücksichtnahme. Offenbar können nur Zwangsmaßnahmen den notwendigen Abstand und die erforderliche Rücksichtnahme wenigstens annähernd durchsetzen. Das ist eine bittere Erkenntnis über die Vernunft und leider vor alem auch Unvernunft meiner Mitmenschen.
Die deshalb verfügten Einschränkungen jedoch werden wahrscheinlich „den Teufel mit Beelzebub austreiben“. Sie werden empfindliche Menschen noch mehr ängstigen und lebensnotwendige Kontakte verhindern. Am Ende gehen die Menschen dann nicht am Coronavirus ein, sondern an Angst oder Einsamkeit.
Wie sehr wünschte ich mir mehr Vernunft und Einsicht in die Dramatik der gegenwärtigen Lage! Wie sehr wünsche ich mir rücksichtnahme und Solidarität sowie Empathie! Wie sehr wünsche ich mir Menschen, die andere anrufen und bei Bedarf trösten oder auch nur aufheitern und ermutigen!
All das gibt es in diesen Tagen freilich auch. Ich habe wunderbare Zeugnisse von Solidarität erleben dürfen, die meinen unerschütterlichen Glauben an das Gute bestärken. Die meisten meiner Mitmenschen sind solidarisch und rücksichtsvoll, wenngleich es leider aber immer noch zu viele Egoisten und Hedonisten gibt.
Nicht nur für Betroffene und Angehörige sind verharmlosende Aussagen von Corona-Leugnern schwer erträglich. In dieser Feststellung stimme ich der Bundeskanzlerin voll zu. Für mich kommt es nahe an die Wirkung von Holocaustleugnern heran, die sie bei Überleenden der Shoa und ihren Nachkommen erzeugen.
Notwendig wäre eine ausführliche und auch kontroverse Diskussion aller Maßnahmen in allen Parlamenten vom Deutschen Bundestag über die Landtage bis hin zu Kommunalparlamenten. Für und wider aller Maßnahmen bedürfen sorgfältiger Erwägung und nicht irgendwelcher macht- und parteipolitisch aufgeladener Hinterzimmer- und Online-Debatten mit der Bundeskanzlerin. So weitreichende Einschränkungen von Freiheitsrechten der Bevölkerung müssen eine breite demokratische Legitimation und Begründung besitzen!
Ohne diese Auseinandersetzung droht die Demokratie zu straucheln. Vor allem aber fehlt vielen die nötige Auseinandersetzung mit allen Argumenten. Auch die Berichterstattung in Zeitungen, Hörfunk und Fernsehen muss von der aufgeregten Hektik zwischen Infragestellung der Gefahren und Panikmache befreit werden.
Mit Scham und Trauer denke ich an die namenlosen Opfer der Corona-Pandemie. Ihnen wird in der medialen Berichterstattung leider nach wie vor zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Doch ebenso wie bei den rassistischen Terroranschlägen von Halle und Hanau heißt die Devise auch hier: „Say their Names!“