Der 16. August 2002 wird wahrscheinlich in die Geschichte eingehen als der Tag, an dem Deutschland das Ende seines Sozialstaats eingeläutet hat. An diesem Tag traten der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder und Peter Hartz vor die Kameras. Vollmundig verkündeten sie die Arbeitsergebnisse der sogenannten „Hartz-Kommission“. Mit einem Bündel unterschiedlichster Maßnahmen solle künftig die Arbeitslosigkeit bekämpft und die Situation der Erwerbslosen „verbessert“ werden.
Innerhalb von drei Jahren wollte Hartz die Zahl der Erwerbslosen halbieren. Zwei Millionen Arbeitslose wollte er mit Hilfe der von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen wieder in Lohn und Brot bringen, versprach der damalige VW-Arbeitsdirektor vollmundig. In vier Schritten sollten die Empfehlungen der Kommission umgesetzt werden.
Eine Folge mit Folgen: Hartz I bis Hartz IV
Am Anfang stand die Umwandlung der Bundesanstalt für Arbeit (BA) in die „Bundesagentur für Arbeit“ (BA). Aus der Behörde sollte eine Agentur werden, die die Erwerbslosen als ihre „Kunden“ betrachtet.
Weitere Empfehlungen zielten auf eine Ausweitung der Leiharbeit ab. Jede Niederlassung der BA sollte eine eigene Leih-Agentur erhalten. Diese sogenannten „Personal-Service-Agenturen“ (PSA) betrachtete Hartz als „Kernstück“ seiner „Reformen“. Von ihnen erhoffte er sich die größten Effekte bei der Vermittlung Erwerbsloser in den sogenannten „Ersten Arbeitsmarkt“.
Neu geregelt wurden die sogenannten „Minijobs“. Durch vereinfachte Bestimmungen zur Versteuerung und eine pauschale Abgeltung sollten Nebentätigkeiten und geringfügige Beschäftigung vereinfacht werden.
Unter dem Etikett „Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe“ schließlich wurde das sogenannte „Arbeitslosengeld II“ (ALG II) proklamiert. Diese Maßnahme sollte die Kommunen entlasten und auch denjenigen Erwerbslosen Förder- und Integrationsmöglichkeiten verschaffen, die bislang keine Ansprüche auf eine Förderung durch die BA gehabt hatten.
Allerdings legten Hartz und die Parlamentsmehrheit den Erwerbslosen enge Daumenschrauben an: Das neue Sozialgesetzbuch II (SGB II) verpflichtete sie, jede – auch noch so schäbige – Arbeit anzunehmen.
Eine „Mitwirkungspflicht“ machte den Bezug des ALG II zudem von einer Unterwerfung unter das Diktat des sogenannten „Fallmanagers“ abhängig. Diesen Namen verdienten die Sachbearbeiter deswegen, weil sie den sozialen Absturz der Betroffenen managen sollten.
Hinzu kamen die sogenannten „Arbeitsgelegenheiten“. Im Volksmund sind sie als „Ein-Euro-Jobs“ bekannt geworden. Sie übten weiteren Druck auf die Erwerbslosen aus.
Die Pflicht zur Annahme auch schlechtest bezahlter Arbeit, die Ein-Euro-Jobs und auch die 400-Euro-Minijobs trugen mit dazu bei, das Lohn-Niveau in einer ständig tiefer stürzenden Spirale ins Bodenlose abzusenken. Herausgekommen sind Armut und eine weitgreifende Massen-Verelendung. Vom vielzitierten Prinzip „Fordern und Fördern“ ist in der Realität von Hartz IV nur „Fordern“ übriggeblieben.
ALG-II-Regelsatz 347 Euro: Streit um Anhebung
7,4 Millionen Menschen leben in Deutschland inzwischen von Hartz IV. Jeder neunte Bundesbürger im Alter unter 65 Jahren ist heute schon von derartigen Leistungen abhängig. Das größte Armutsrisiko haben dabei alleinerziehende Frauen.
Besonders hart trifft die Erwerbslosigkeit ihrer Eltern aber die Kinder. Nach einer Studie der Universität Bonn reicht der vom Sozialgesetzbuch II vorgesehene Satz für Kinder und Jugendliche nicht aus, um eine ausgewogene Ernährung sicherzustellen.
Vorschläge für eine Erhöhung des Regelsatzes von derzeit 347 Euro monatlich sind in den letzten Tagen sogar von CDU- und CSU-Politikern gekommen. Nach einer spürbaren Erhöhung der Lebensmittel-Preise kam wohl kaum ein Politiker an diesem Gedanken vorbei. Schließlich zirkuliert in Berlin zur Zeit auch der Vorschlag, die Diäten der Bundestagsabgeordneten um 9,4 Prozent zu erhöhen.
Den Betrag, den die Parlamentarier mit einer solchen Anhebung ihrer Bezüge einstreichen würden, können die Erwerbslosen aber kaum erreichen, müsste man das ALG II dafür doch mehr als verdoppeln!
Ohnehin ist die Debatte über eine Erhöhung der Leistungen fast immer an die Einschränkung geknüpft, der Staat müsse die dafür notwendigen Ausgaben anderswo einsparen. Am geschicktesten hat das Bundessozialminister Franz Müntefering angestellt, der die Anhebung von ALG II an die Einführung eines gesetzlich garantierten Mindestlohns knüpfen möchte.
Der Staat könne sich ein höheres ALG II nur leisten, wenn er den Unternehmern nicht durch Zuzahlungen zu Niedrig-Löhnen noch indirekt Subventionen für Billigst-Arbeitskräfte in die Taschen stecke.
Gut 960.000 Menschen können in Deutschland inzwischen von einem Vollzeit-Job nicht mehr leben, da ihr Lohn für die Familie nicht mehr ausreicht. Deswegen beziehen sie ergänzende Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch II.
Auch die schlechte Bezahlung der immer weiter voranschreitenden Leiharbeit ist ein weiterer Grund für die Massen-Verarmung in Deutschland. Wenn der Staat nicht Millionen Menschen verhungern lassen will, muss er also etwas unternehmen.
Armut in Deutschland: Danke, Herr Hartz!
Verantwortlich für die Spirale nach unten ist vor allem das Paket, das Peter Hartz vor fünf Jahren auf den Tisch gelegt hat. Dieses Maßnahmen-Bündel symbolisiert den Einstieg in den Ausstieg des Staates aus seiner sozialen Verantwortung.
Hartz IV war ein Teil der „Agenda 2010“ des damaligen SPD-Bundeskanzlers Gerhard Schröder. Sie erreichte eine steuerliche Entlastung von Unternehmen und Vermögenden durch Steuergeschenke, die über eine Kürzung von Sozialleistungen gegenfinanziert wurden.
Möglich war dieses „Basta“ gegenüber der sozialen Verantwortung des Staates nur einem Kanzler aus den Reihen der „Sozialdemokraten“. Schröder stellte Proteste innerhalb der SPD ruhig, indem er partei-interne Kritiker mit Rücktrittsdrohungen auf Linie zwang.
Doch die Mehrheit der SPD-Mitglieder schluckte und hielt brav den Mund. Andererseits verzeichnet die Partei ebenso wie die CDU seither einen dramatischen Mitgliederschwund.
Das Gleiche gilt leider auch für die Gewerkschaften. Ärgerlich ist, dass mit Isolde Kunkel-Weber auch ein Mitglied des Bundesvorstands der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di in der Hartz-Kommission mitgearbeitet hat.
Das hat der Gewerkschafterin schon unmittelbar nach Veröffentlichung des Abschlussberichts der Kommission heftige Kritik auch von Kolleginnen und Kollegen ihrer eigenen Gewerkschaft eingebracht. Dennoch ist Kunkel-Weber auch heute noch im Bundesvorstand von ver.di für die Sozialversicherung zuständig.
Den Karriere-Knick von Peter Hartz hat ihm indes nicht sein verbrecherischer Raubbau am deutschen Sozialsystem eingebracht, sondern seine Freigiebigkeit gegenüber Betriebsräten des VW-Konzerns. Er hatte Gelder des Konzerns für Lust-Reisen von Betriebsräten bewilligt. Dafür nahm er am 25. Januar 2007 eine Geldstrafe von 576.000 Euro auf sich. Zusätzlich hat ihn das Landgericht Braunschweig wegen Untreue und Begünstigung zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt.
Pikanterweise fanden die so bestraften Bordellbesuche auf Firmenkosten genau zu jener Zeit statt, als sich Hartz von Schröder und anderen als „großer Reformer“ feiern ließ. Sein Verständnis von „Sozialpartnerschaft“ dokumentiert das kriminelle Geschehen deutlich: Hartz hält anscheinend alle Menschen für käuflich!
Hartz IV statt BSHG: Druck statt Hilfe
Das Sozialgesetzbuch II mit den wesentlichen Elementen der „Hartz-Reform“ ist am 1. Januar 2005 in kraft getreten. Gemeinsam mit dem Sozialgesetzbuch XII (SGB XII) hat es das Bundes-Sozialhilfegesetz (BSHG) abgelöst, das zuvor die Leistungen des Staates gegenüber Bedürftigen geregelt hatte.
Damit sind Zwang und Druck an die Stelle von Unterstützung und Hilfe getreten. Zumindest nach dem Gesetzestext war das alte BSHG an den Hilfsbedürftigen und ihren Notsituationen orientiert. Der Staat musste demnach jedem Bedürftigen genau diejenige Geld- oder Sach-Unterstützung zukommen lassen, die der Betreffende benötigte. Das musste auch unabhängig von jeglicher Antragstellung geschehen, sobald die Behörde Kenntnis von einer Notlage erhalten hatte.
Mag man diese Regelung für einen Ausdruck paternalistischer Arroganz der Sozialarbeiter gegenüber den Bedürftigen halten, so hätte sie zumindest den Hunger-Tod eines 20-jährigen Erwerbslosen am 15. April 2007 in Speyer verhindert. Und auch Detlev Rochner hätte nach dem BSHG bessere Chancen gehabt, die notwendige Hilfe für sich und seine Familie einzufordern. Detti hätte nicht sterben müssen!
Nach alledem bleibt festzuhalten, das die Hartz-Gesetze geradezu mörderische Elemente einer Umverteilung von Unten nach Oben sind. Außerdem sollte immer wieder daran erinnert werden, dass sie unter Rot-Grün mit Billigung der FDP und tatkräftiger Unterstützung der CDU/CSU durch Bundestag und Bundesrat hindurchgepresst worden sind.
Bei Hartz IV waren sich fast alle einig. Und sie haben bis heute nichts aus ihren Fehlern gelernt!
Auffällig ist die konzertierte Hetz-Kampagne gegen Oskar Lafontaine und andere angebliche „Populisten“, die im Bundestag und in der Öffentlichkeit gegen diese unsoziale Politik wettern. Immer wieder wird behauptet, der Sozialstaat alter Prägung sei nicht mehr finanzierbar. Wenn man das Geld zuvor den Reichen und Superreichen, den Unternehmern und Hedge-Fonds in den Rachen geworfen hat, dann fehlen diese Mittel natürlich für das Volk!
Die Einschüchterung der Menschen durch eine ständige Ausweitung polizeilicher Befugnisse ist dann auch eine logische Folge von Hartz IV. Wer den Menschen die Gürtel unter Zwang immer enger umschnallt, der muss ihre vehementen Proteste fürchten. Deswegen sind Begründungen mit „islamistischem Terror“ für die umfassenden Gesetzespakete des Bundesinnenministers Wolfgang Schäuble zum Ausbau des Überwachungsstaats auch unglaubwürdig. Sein wahres Ziel ist eine Unterdrückung massiver Sozialproteste der Armen.
Nach vier „Geistesblitzen“ von Peter Hartz ist Deutschland nun also wirklich arm dran. Der in Artikel 20 des Grundgesetzes garantierte Sozialstaat ist nur noch eine leere Hülle ohne Inhalt. Solidarität ist zu einem Wort ohne Wert verkommen.
Am Schluss stellt sich der betrübte Betrachter die bange Frage, ob der Todestag des deutschen Sozialstaats vielleicht gar nicht zufällig auf den 25. Todestag von Elvis Presley gefallen sein könnte. Wird Elvis als Rock-and-Roll-Legende weiterleben, so sollte der Sozialstaat doch besser weiterhin keine Legende, sondern wirklicher Alltag bleiben!
Franz-Josef Hanke