Am Dienstag (31. Juli) wurden die Wohnungen und teilweise auch die Arbeitsplätze von insgesamt sieben Personen in Berlin und Leipzig durchsucht. Dabei wurde Andrej H. festgenommen. Wenige Stunden zuvor wurden Florian L., Axel H. und Oliver R. ebenfalls festgenommen – angeblich bei dem Versuch, Bundeswehr-Fahrzeuge in Brandenburg anzuzünden.
Per Hubschrauber wurden sie am Donnerstag (2. August) zum Bundesgerichtshof nach Karlsruhe geflogen, wo sie der Ermittlungsrichter Ulrich Hebenstreit mit den Beschuldigungen konfrontierte. Zurück in Berlin, befinden sich die Vier nun in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt Moabit.
Ihnen und drei weiteren Personen wird die “Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung” (Paragraph 129a des Strafgesetzbuchs) vorgeworfen. Wieder einmal ist von der “militanten Gruppe” (MG) die Rede, die bisher vor allem durch angebliche “Bekennerschreiben” auf sich aufmerksam gemacht hatte.
Ein kritischer Wissenschaftler wird kriminalisiert
Vor allem der Fall des Sozialwissenschaftlers Dr. Andrej H. hat nun für internationales Aufsehen gesorgt. Ihn klagt die Bundesanwaltschaft der “Intellektuellen Mittäterschaft” an. Der Verdacht auf die Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung wird nach Auskunft der Rechtsvertreter von Dr. Andrej H. inhaltlich wie folgt begründet:
Nach der Bundesanwaltschaft ist von einer Mitgliedschaft von Dr. Andrej H. in einer terroristischen Vereinigung auszugehen, weil er sich mit Themen beschäftigt, die sich auch in Schreiben der “MG” wieder finden. Eine wissenschaftliche Abhandlung von Dr. Andrej H. von 1998 enthalte „Schlagwörter und Phrasen“, die in Texten der „militanten Gruppe“ gleichfalls verwendet werden (unteranderem den in der Stadtforschung gebräuchlichen Begriff der „Gentrification“).
Einem beschuldigten promovierten Politologen stünden „als Mitarbeiter eines Forschungszentrums Bibliotheken zur Verfügung, die er unauffällig nutzen kann, um die zur Erstellung der Texte der militanten Gruppe erforderlichen Recherchen durchzuführen“.
Er und die weiteren wissenschaftlich Tätigen verfügten über die „intellektuellen und sachlichen Voraussetzungen, die für das Verfassen der vergleichsweise anspruchsvollen Texte der militanten Gruppe erforderlich sind“.
Andrej H. hatte am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität in Berlin studiert. Im Fachgebiet Stadt- und Regionalsoziologie hatte er sich mit der Aufwertung von Stadtbezirken und der damit einhergehenden Vertreibung alteingesessener Bewohner beschäftigt.
“Gentrifikation” ist der internationale Fachbegriff dieses Prozesses, der vor allem in Großstädten dazu führt, dass sozial Schwächere aus ihren angestammten Quartieren verdrängt werden.
Alte Menschen und kinderreiche Familien werden in der Folge mehr und mehr an die Stadtränder ausquartiert. Ihnen wird ein Leben in einem urbanen Umfeld unmöglich gemacht. Die im Rahmen der Gentrifikation veränderten Stadtbezirke verkommen zu den bekannt uniformen Quartieren mit Hotels, Banken und teuren Wohn-Immobilien.
Mit der Zerstörung der ehemals billigen Wohnviertel stirbt aber in der Regel immer auch ein Platz für Phantasie, selbstgestaltete Lebensformen, Kleingewerbe und gewachsene Sozialstrukturen.
Die Beschreibung dieses Konfliktes in einem Aufsatz von Andrej H. soll angeblich in einer Erklärung der “militanten gruppe” aufgegriffen worden sein. Sie nutze dabei die typische Terminologie der Sozialwissenschaft, unter anderem den Begriff “Gentrifikation”. Daraus konstruiert die Bundesanwaltschaft nun die “geistige Urheberschaft” des Dr. Andrej H. und begründet so den Terrorismus-Verdacht.
Sein Professor und Doktorvater, der Soziologe und Politologe Hartmut Häußermann, äußerte sich in einem Gespräch mit politblog zu den Vorwürfen gegen Andre H.: “Andrej ist ein engagierter Wissenschaftler. Seine Analysen sind gründlich und genau. Er hat sein Wissen auch praktisch eingesetzt, für Bürgerinitiativen am Prenzlauer Berg und am Helmholtzplatz in Berlin. Seine gesellschaftspolitischen Interpretationen waren nie terroristisch oder kriminell. Auch wenn ich seine Positionen nicht immer teile, muss ich sagen, Andrej H. ist genau der kritische Geist, den wir uns in der Wissenschaft wünschen.”
Weltweite Empörung
Der Tatvorwurf der geistigen Urheberschaft hat Wissenschaftler aus der ganzen Welt auf den Plan gerufen. Mit Besorgnis und Empörung reagieren sie auf die Kriminalisierung der Forschung und Lehre. In einem Offenen Brief an die Generalbundesanwältin Monika Harms erklären sie: “Solche Argumente lassen jede wissenschaftliche Tätigkeit als potentiell kriminell erscheinen. Die Begründungen der Bundesanwaltschaft stellen eine direkte Bedrohung für alle dar, die kritische Wissenschaft, Publizistik und Kunst betreiben und für diese mit ihrem Namen in der Öffentlichkeit einstehen. Kritische Forschung, auch in Verbindung mit sozialem und politischem Engagement, darf nicht zum terroristischen Tatbestand erklärt werden. “
Neben renommierten Berliner Professoren wie Hartmut Häußermann fordern die international bekannten Sozialwissenschaftler Richard Sennett, Peter Marcuse und Mike Davis aus den USA die sofortige Freilassung von Andrej H. In Warschau versammelten sich in der vergangenen Woche Studenten und Wissenschaftler zu einer Solidaritätsveranstaltung, auf der sie die sofortige Freilassung der Inhaftierten forderten.
Unmittelbar nach der Verhaftung kam es bereits am Samstag (4. August) im Rahmen der “attac-Sommerakademie” in Fulda zu einer spontanen Solidaritätsdemonstration. Unter dem Motto “Wer das liest, ist Terrorist” wurde auf die Bedrohung und Absurdität aufmerksam gemacht, Menschen aufgrund ihres intellektuellen Vermögens und ihrer kritischen wissenschaftlichen Arbeit zu kriminalisieren.
Die Anwälte von Andrej H. haben einen Haftprüfungstermin beantragt. Am Freitag (24. August) soll darüber in Karlsruhe entschieden werden. Für die anderen drei Inhaftierten ist noch kein Haftprüfungstermin beantragt worden.
Solidaritätsorganisationen rufen für Mittwoch (22. August) um 18 Uhr zu einer Kundgebung vor der Justizvollzugsanstalt Moabit in Berlin auf.
Weiterführendes
politblog.net hat über diese skandalösen Vorgänge in Berlin berichtet. Inzwischen wurde Andrej H. nach internationalem öffentlichen Druck gegen Kaution aus der Haft entlassen. Einen Aufruf zur Freilassung aller vier Verhafteten finden Interessierte unter einstellung.so36.net/de im Internet. Den internationalen Wissenschaftler-Aufruf zur Solidarität mit Andrej H. haben Professoren der Humboldt-Universität Berlin auf der Seite www.Freeandrej.net.ms ins Netz gestellt.
Zu dem „Soziologen-Skandal“ hat die Berliner Tageszeitung (TAZ) am Dienstag (21. August) weitere Hintergrung-Informationen veröffentlicht. Im „Hausmeister-Blog“ der TAZ empören sich Soziologen darüber, dass mit diesem Vorgehen ihrer Fachrichtung kriminalisiert wird. Auch die Süddeutsche Zeitung (SZ) wies am Mittwoch (22. August) darauf hin, dass mit diesem Vorgehen jeder Wissenschaftler kriminalisiert werden kann.
Außerdem hat politblog.net dazu einen Aufruf zu einem anti-terroristischen Wochenende am 12., 13. und 14. Oktober überall im Bundesgebiet veröffentlicht.
Schließlich rufen politblog.net und die Humanistische Union Hessen gemeinsam auf zum Erhalt von Freiheit und Demokratie, gegen den Abbau von Bürgerrechten unter dem Vorwand der Terrorismus-Bekämpfung.
Pony Huetchen