Auf dem Bahnsteig 1a steht eine lange Schlange. Im Minuten-Takt bewegen sich die Menschen immer einen Schritt weiter vorwärts. 42 Leute stehen vor uns.
Der „Zug der Erinnerung“ hat am Dienstag (20. Mai) im Marburger Hauptbahnhof Halt gemacht. Von 9 bis 19 Uhr können Interessierte die rollende Ausstellung über die Deportationen von Menschen in nationalsozialistische Konzentrationslager besichtigen.
Es ist 17.50 Uhr. Wir beschließen, höchstens 20 Minuten lang anzustehen. Derweil hat sich auch schon hinter uns eine kleine Schlange gebildet.
Millionen Menschen wurden in den Jahren 1941 bis 1945 in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern ermordet. Juden, Homosexuelle, Roma und Sinti, Kommunisten und Sozialdemokraten oder auch nur oppositionelle Christen schickten die Nazis in die Vernichtungslager. Den Weg von ihren Heimatorten in die KZs legten die meisten in Zügen zurück. Über diese Transporte informiert der „Zug der Erinnerung“.
Immer wieder kommen uns Leute entgegen, die die Ausstellung schon angesehen haben. Ihre Gesichter drücken Verunsicherung, Betroffenheit oder Trauer aus. Derweil plaudern die Wartenden vor und hinter uns in der Schlange unbefangen miteinander.
Drei historische Eisenbahnwaggons bilden den „Zug der Erinnerung“. Zwei davon dienen als rollende Ausstellungsfläche. Gezogen werden sie von einer alten Dampflokomotive der Baureihe P8.
Nach einer guten Viertelstunde sind wir bis zum Ende des Zugs vorgerückt. Als nächste können nun wir einsteigen. Am Einstieg begrüßt uns Dr. Ulf Immelt.
Der Organisationssekretär des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) hat die Ausstellung nach Marburg und Gießen geholt. Dank üppiger Spenden der Stadt Marburg und des Landkreises Marburg-Biedenkopf sind die 3.500 Euro zusammengekommen, die die Deutsche Bahn AG (DBAG) für den Aufenthalt im Bahnhof und die Fahrt über ihr Schienennetz verlangt hat.
„Es ist gut, dass Ihr das organisiert habt“, sage ich zu Ulf. Das Verhalten der Deutschen Bahn AG gegenüber der Initiative „Zug der Erinnerung“ fand ich einfach nur schlimm.
Im Vorfeld der Aktion hatte der DBAG-Vorstand alles versucht, um diese Ausstellung zu verhindern oder ihr Steine in den Weg zu legen. Die DBAG verlangte hohe Gebühren für die Aufenthalte auf den Bahnhöfen sowie für die Nutzung der Schienen. Zudem fand der DBAG-Vorstandsvorsitzende Hartmut Mehdorn angeblich keine Möglichkeit, den „Zug der Erinnerung“ auch auf den großen Hauptbahnhöfen halten zu lassen.
Dieses Verhalten war einfach nur schändlich. Aber es passt zu einem Mann, der auch die Gewerkschaft der Lokführer (GdL) ausbremsen und gegen die Gewerkschaft „Transnet“ ausspielen wollte.
Nach deutlichen Interventionen beispielsweise des Bundestags-Vizepräsidenten Wolfgang Thierse und des Bundesverkehrsministers Wolfgang Tiefensee konnte der „Zug der Erinnerung“ schließlich doch noch auf große Fahrt gehen. Auf dem Rückweg von Auschwitz nach Frankfurt kommt er nun auch noch durch Marburg.
Jetzt stehen wir direkt vor dem Einstieg. Drei schmale und steile Stufen klettern wir hinauf in den Waggon. Dort stehen wir dann sofort wieder in einer Schlange.
Bei dem Waggon handelt es sich um einen alten Reisezugwagen mit Abteilen. Die Ausstellungsbesucher schieben sich nacheinander durch den schmalen Gang an diesen Abteilen vorbei. Außen an – und teilweise auch in – den Abteilen sind Tafeln mit Fotos und Erklärungstexten angebracht.
Wir lesen Namen und erfahren Schicksale. Schritt für Schritt schieben wir uns in dem schmalen Gang voran.
Die Tafeln berichten über die Deportation jüdischer Familien und ihrer Kinder. Die Texte zeichnen ihren Lebensweg ins KZ nach.
Vor einer Tafel bleiben wir länger stehen. „Dreihausen bei Marburg“ heißt es da. Der Nazi-Terror hat auch in unserer Nähe gewütet.
Roma und Sinti hatten sich Dreihausen als Ort für ihre Überwinterung ausgesucht. Ihre Kinder spielten mit den Gleichaltrigen im Dorf. Gemeinsam gingen sie im Baggersee baden, nachdem die Nazis „Zigeunern“ den Besuch öffentlicher Schwimmbäder verboten hatten.
Den See bei Dreihausen kennen wir noch. Inzwischen wurde er zugeschüttet.
Den Roma und Sinti verboten die Behörden zunächst, den Ort zu verlassen. Der Dreihausener Bürgermeister untersagte den Kindern den Schulbesuch. Nach 19 Uhr durften sie den Lagerplatz nicht mehr verlassen. Schließlich wurden sie abgeholt und deportiert.
In den umliegenden Dörfern gab es viele Nazis, meint jemand. Aber auch in Marburg selbst war die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiter-Partei (NSDAP) beängstigend stark. Uns beschleicht ein Gefühl der Beklemmung.
Für viele Menschen war die Lage damals aussichtslos. Ein jüdischer Lehrer versuchte vergeblich, für sich und seine Familie ein Einreisevisum irgendeines Drittlandes zu erhalten. Kein Land nahm ihn auf.
„So was wäre heute nicht mehr möglich“, meint meine Begleiterin voller Sarkasmus. Wir erinnern uns an Berichte vom Frankfurter Flughafen, wo Kinder „exterritorial“ eingesperrt werden, damit sie in Deutschland kein Asyl beantragen können.
Der 16-jährige Rudi hat sich verliebt. Er selbst ist „Halbjude“. Seine Freundin ist ein jüdisches Mädchen. Die Tafel zeichnet sein Schicksal nach, das im KZ endet. Dazu zeigt sie eine Postkarte seiner Freundin, die sie ihm aus dem KZ geschickt hat. Darin bekundet sie ihre Liebe zu Rudi.
Jemand hat Blumen an die Tafeln gelegt. Wir schieben uns traurig weiter voran.
Geistig Behinderte haben die Nationalsozialisten in Hadamar vergast. Sie erklärten Behinderte zu „lebensunwertem Leben“. In einem Abteil werden die Schicksale behinderter Kinder dargestellt.
Ich erinnere mich an Werner Eike. Bis Ende der 80er Jahre konnte er unangefochten in Marburg als Psychiater praktizieren.
Als Leiter der Psychiatrischen Anstalt in Cappel hatte er Behinderte nach Hadamar geschickt. Dennoch blieb er nach Kriegsende Leiter des Psychiatrischen Krankenhauses.
Durch den Übergang zum nächsten Waggon erreichen wir den Teil der Ausstellung, wo die Täter beim Namen genannt werden. Reichsbahn-Beamte haben mitgewirkt an der industriellen Vernichtung von Millionen Menschen.
Ein kurzer Film zeigt den Leiter der Reichsbahn-Abteilung 33. Er hat die Transporte nach Auschwitz und Treblinka organisiert. Für ihn seien das alles „nur Ziele“ gewesen, betont er nach Kriegsende ungerührt.
Wir müssen an Beamte denken, die Flüchtlinge abweisen oder Erwerbslosen die Kürzung des Arbeitslosengeldes II (ALG II) androhen. Wir denken an Menschen, die im südafrikanischen Johannesburg auf Einwanderer losgehen und sie brutal ermorden. Ist der Mensch eine Bestie?
Nicht alles war schlimm. Im vorletzten Raum zeigt die Ausstellung die Befreiten. Sie berichtet auch von Menschen, die dem Nazi-Terror entkommen sind. Ein Koffer mit einem uralten Teddy daran ist das letzte Lebenszeichen, das ein jüdisches Ehepaar von seinem kleinen Sohn behalten hat.
Mit wackeligen Füßen steige ich die schmale und steile Treppe hinab auf den Bahnsteig. Ulf Immelt streckt mir die Hand entgegen, um mich abzustützen.
„Wir haben mal nachgezählt“, berichtet er. 140 Besucher haben wir jede Stunde hier durchgeführt.“
Bei zwölf Stunden Aufenthalt im Marburger Hauptbahnhof haben also gut 1.500 Menschen allein hier den „Zug der Erinnerung“ besichtigt. Eigentlich sollte jeder diese Ausstellung gesehen haben.
Es ist kurz vor 19 Uhr. Um 19.30 Uhr soll der Zug zu seiner nächsten Station im Gießener Hauptbahnhof starten. Die Lok steht schon unter Dampf.
An einer – nun schon etwas kürzeren – Schlange entlang gehen wir hinaus aus dem Bahnhof. Nachdenklichkeit prägt unseren Heimweg: Haben die Menschen aus diesem Verbrechen wirklich etwas gelernt?
Franz-Josef Hanke