„Artikel 123: Kein Anschluss unter dieser Nummer!“ Aufkleber mit diesem Text haben viele Anfang 1990 in West- und Ostdeutschland verteilt. Sie wehrten sich damit gegen den „Beitritt“ der DDR zur Bundesrepublik.
Mit großer Euphorie haben auch im Westen viele Menschen die Aufbruchsstimmung nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989 miterlebt. Knatternde und stinkende Trabbis kamen an den Adventssamstagen 1989 massenweise nach Marburg. Vor allem die Bevölkerung der Marburger Partnerstadt Eisenach und ihrer westthüringischen Umgebung drängelte sich in der historischen Oberstadt und den Geschäften der Innenstadt.
Nun sei das Grundgesetz gemäß seiner Präambel erfüllt und das gesamte deutsche Volk werde sich in freier Entscheidung eine neue Verfassung geben, dachten wir. Doch der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl fürchtete offenbar die direkte Demokratie. Irgendeiner seiner Berater hatte mit dem Artikel 123 des Grundgesetzes eine Möglichkeit entdeckt, entgegen dem Geist des Grundgesetzes die DDR ohne eine neue Verfassung dem Westen einzuverleiben wie 1957 das Saarland.
Die Aktiven der Humanistischen Union (HU) hingegen diskutierten mit vielen anderen Demokratischen Kräften den Verfassungsentwurf des „Runden Tischs der DDR“. Freiheitlicher und noch demokratischer als das gute alte Grundgesetz sollte er werden. Direkte Demokratie stand sehr hoch im Kurs bei den zahlreichen Diskussionen darüber in Ost und west.
40 Jahre lang hatte das Grundgesetz sich im Westen bewährt. Der Verfassungsentwurf des Runden Tischs sah eine Ergänzung dieser freiheitlichen Verfassung um mehr Soziale Rechte, Natur- und umweltschutz sowie Elemente Direkter Demokratie vor.
Einen gravierenden Makel des Grundgesetzes sollte die neue Verfassung für ganz Deutschland beseitigen: Durch eine Volksabstimmung sollte das gesamte deutsche Volk ihn billigen. Einer solchen Prozedur ist das Grundgesetz in den 70 Jahren seines Bestehens niemals unterzogen worden.
Doch Kanzler Kohl scheute die Direkte demokratie wie der Teufel das Weihwasser. Mit weihevollen Sprüchen vernebelte er seine intrigante Entmachtung der Bevölkerung in Ost und West. Das Grundgesetz wurde leicht abgeändert, aber nicht weiterentwickelt wie erhofft.
Dieser intrigante Schachzug eines Anschlusses der DDR an die Bundesrepublik war vor Allem für die Bevölkerung der DDR eine flagrante missachtung ihrer demokratischen Leistungen. Dabei hatten doch gerade die Menschen in Leipzig, Ost-Berlin und der gesamten DDR die Wende herbeigeführt!
Die ignorante Arroganz der Treuhandanstalt und die „Abwicklung“ der angeblich maroden Industrien der DDR prägten fortan den Umgang der BRD mit der einstigen DDR. West-Unternehmenrissen sich die Filetstücke im Ostenunter die Nägel und raubten sich, was nicht niet und nagelfest war. Alles andere nagelten sie zu, damit die Westbetriebe nur ja keine Konkurrenz aus dem Osten fürchten mussten!
All das rächt sichheute bitterlich. Statt einer „Wiedervereinigung“ auf Augenhöhe hat sich die alte Bundesrepublik die DDR einfach unterworfen. Lebensleistung und Kultur der Menschen dort waren den Mächtigen im Westen ziemlich egal.
Sicherlich rechtfertigt all das keine Fremdenfeindlichkeit und keinen Neofaschismus; aber es erklärt vielleicht ein wenig die Verletzungen vieler Menschen in der ehemaligen DDR. Am sogenannten „Tag der deutschen Einheit“ wäre es wohl einmal angebracht, dass sich der Westen beim Osten für dieses kolonialistische Vorgehen entschuldigt?