Dr. Michael Weber ist pünktlich. Der Politische Geschäftsführer der Piratenpartei Hessen holt mich am Montag (5. Februar) zur gemeinsamen Aktion gegen das Verfassungsschutzgesetz ab.
Die Mahnwache gegen die Novelle zum Hessischen Verfassungsschutzgesetz findet um 19.30 Uhr vor der Kreisgeschäftsstelle der Grünen Marburg-Biedenkopf statt. Aufgerufen dazu haben die Humanistische Union (HU), die Piratenpartei und Die Linke.
Wir packen die laminierten Plakate mit unseren Forderungen ein. Bindfäden ermöglichen, sich solch ein Poster vor den Bauch oder den Rücken zu hängen. Videokamera und Stativ lassen wir ob der längst eingetretenen Dunkelheit zurück.
„Kein www.hessentrojaner.de für den Verfassungsschutz!“ steht da oder „Kriminelle V-Leute machen aus dem Rechtsstaat einen Rechts-Staat“. Ein anderer Spruch lautet: „Keine Macht für Schnüffler! Gelebte Demokratie ist der einzig wahre Verfassungsschutz.“
Wir verlassen meine Wohnung. Draußen vor der Haustür treffen wir auf Jochen Schäfer. Zusammen mit Michael und mir fährt er zur Frankfurter Straße.
Direkt vor der Kreisgeschäftsstelle der Grünen ist noch ein Parkplatz frei. Das Büro ist hell erleuchtet. Die Schutzgitter vor den Scheiben sind hochgezogen.
Von uns hat auch niemand Steinwürfe oder andere Unannehmlichkeiten zu erwarten. Wir wollen mit Argumenten überzeugen. Dabei ist uns klar, dass die Mehrheit der Grünen vor Ort gegen das Verfassungsschutzgesetz ist.
Bei der Landesmitgliederversammlung der Grünen am 18. November 2017 in Hanau hatte sich eine knappe Mehrheit der Stimmberechtigten gegen das Gesetz ausgesprochen. Dennoch treibt die Landtagsfraktion der Grünen das Gesetzgebungsverfahren im Eiltempo durch den Landtag. Dabei enthält der vorgelegte Gesetzentwurf eine ganze Reihe verfassungswidriger Regelungen.
Wir bleiben im Auto sitzen, bis weitere Demonstrationsteilnehmer kommen. Draußen herrschen deutliche Minusgrade. So warten wir bis etwa 19.20 Uhr, bevor wir aussteigen.
Mit unserer Mahnwache wollen wir der Grünen Basis vor Ort die Gelegenheit geben, sich der gemeinsamen Erklärung gegen das Gesetz und damit gegen mehr Macht für Schnüffler anzuschließen. Diese Erklärung haben bisher 23 Organisationen und 47 Einzelpersonen unterzeichnet. Sie warnt vor „schwarz-grüner Gesetzgebung“ mit dem Hinweis „Geplante Verschärfungen des hessischen Verfassungsschutzgesetzes schädigen Demokratie und Grundrechte.“
Wir hoffen darauf, dass sich Grüne dieser Erklärung anschließen. Beim Neujahrsempfang der Universitätsstadt Marburg hatten mir gegenüber einige ihre Empörung über das geplante Gesetz zum Ausdruck gebracht.
Michael Weber hat die Erklärung ausgedruckt und Unterschriftenabschnitte vorbereitet. Als prominenter Grüner hatte Roland Appel aus Nordrhein-Westfalen die Erklärung bereits unterschrieben. Im Düsseldorfer Landtag war er Fraktionsvorsitzender der Grünen und gehört außerdem der G10-Kommission zur Kontrolle der Geheimdienste an.
Wir verteilen die Umhänger mit unseren Forderungen. Renate Bastian bekommt das Plakat mit der Aufschrift „Berufsverbote? Verboten! Kein Rückfall in die menschenrechtswidrige Praxis der Gesinnungsschnüffelei in Hessen!“
Ihr Ehemann Herbert Bastian war wegen seiner Kandidatur auf der Kommunalwahlliste der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) jahrzehntelang von einem Berufsverbot betroffen. Unter Mitwirkung des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker wurde der ehemalige Postbeamte schließlich rehablitiert. Erst später hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Praxis der Berufsverbote in Deutschland für menschenrechtswidrig erklärt.
Einem Reporter der Oberhessischen Presse (OP) erkläre ich diesen Sachverhalt. Der Journalist befragt mich und Michael Weber zu den Hintergründen unserer Protestaktion.
Mit dem „Gesetz zur Neuordnung der Arbeit des Verfassungsschutzes in Hessen“ möchte die Regierungskoalition Berufsverbote wieder einführen sowie die Überprüfung von Mitarbeitern staatlich finanzierter Projekte zur Förderung der Demokratie durch das Landesamt für Verfassungsschutz regeln. Außerdem erlaubt der Gesetzentwurf, selbst Kriminelle als Verbindungsleute für den Geheimdienst einzuspannen. Zudem sieht es den Einsatz sogenannter „Hessentrojaner“ vor.
Zu diesem Thema äußert sich Michael gegenüber dem Reporter. Der Piraten-Geschäftsführer erklärt, dass der Einsatz von Trojanern mehr Unsicherheit schaffe als Sicherheit. Dabei verweist er auf das Beispiel des Trojaners „Wannacry“.
Diese Schadsoftware hat vor Allem Rechner in Krankenhäusern befallen und vollständig lahmgelegt. Später stellte sich heraus, dass sie zum Eindringen auf die Rechner eine Sicherheitslücke ausnutzte, die zuvor der National Security Agency (NSA) in den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) gestohlen worden war. Die NSA hatte diese Lücke in einer Liste dokumentiert, die Hacker dem Geheimdienst dann gestohlen haben.
„Wer Trojaner einsetzt, muss Sicherheitslücken kennen, durch die die Schadsoftware auf die Rechner eindringen kann“, erklärt Michael. „Diese Lücken will er aber auch möglichst lange nutzen und hält sie deswegen vor den Herstellern der lückenhaften Software geheim. Außerdem können Trojaner nicht nur Rechner ausspähen, sondern auch verändern.“
All diese Argumente gegen Trojaner hat der Chaos Computer Club Darmstadt auf der Internetseite www.hessentrojaner.de zusammengestellt. Weitere Kritikpunkte am vorliegenden Gesetzentwurf hat die Humanistische Union Hessen auf der Internetseite http://vs.hu-hessen.de online gestellt.
Mehrere Grüne sind aus der Kreisgeschäftsstelle herausgekommen und haben sich zu uns gestellt. Eine nimmt das Plakat mit dem Spruch „Nichts gesehen, nichts gehört – NSU killt ungestört vom Verfassungsschutz“. Der Fraktionsvorsitzende Dietmar Göttling fragt mich, ob ich etwas sagen wolle.
„Mehr Machtmittel und technische Möglichkeiten für das Landesamt für Verfassungsschutz bringen nicht mehr Schutz, sondern schädigen die Verfassung“, beginne ich meine kurze Rede. Die Grünen fordere ich auf, die gemeinsame Erklärung zu unterzeichnen. Das könnten sie als Fraktion tun, aber auch als Einzelpersonen.
„Wichtig ist mir, dass Ihr das aus Überzeugung tut“, ergänze ich. „Wir wollen niemanden bedrängen.“
Daraufhin erklärt Dietmar Göttling: „Keiner der Anwesenden hat auf der Landesversammlung für das Gesetz gestimmt. Wir alle sind dagegen und hoffen, dass es nicht so zustande kommt.“
Richtig Stimmung kommt auf, als Jochen Schäfer den „Secret Service Song: Wissen, wer was macht“ anstimmt. Unter rhythmischem Klatschen der Anwesenden singt er: „Wissen ist Macht; wir wollen alles wissen, was wer wo macht.“
Passanten bleiben stehen und hören zu. „Wir nennen uns Verfassungsschutz und schützen streng geheim Nazis, die hauen auf den Putz und zündeln am Flüchtlingsheim“, singt er. Diesen Song wird Jochen auch bei der Demonstration am Donnerstag (8. Februar) auf dem Dernschen Gelände vor dem Hessischen Landtag in Wiesbaden singen.
Trotz der Kälte wird es mir warm ums Herz. Mit einer Politikerin der Grünen diskutiere ich noch über die Verstrickung des Hessischen Landesamts für Verfassungsschutz in die NSU-Mordserie und die Rolle des V-Mann-Führers Andreas Temme beim Mord an Halit Yozgat. „Wer dem Quellenschutz Vorrang vor Mordermittlungen einräumt, dem darf kein demokratischer Gesetzgeber mehr Macht einräumen“, fordere ich.
Dietmar Göttling lädt alle Anwesenden noch auf einen Tee zum Aufwärmen in die Kreisgeschäftsstelle ein. Einige folgen dieser Einladung und diskutieren drinnen weiter. Die gemeinsame Erklärung haben die Grünen auch dorthin mitgenommen.
Derweil denke ich noch über meine Rede auf dem Halitplatz in Kassel nach, wo ich die drei Schwestern des NSU-Mordopfers Halit Yozgat kennengelernt habe. Hätte ich heute diese Mahnwache nicht mitgemacht, müsste ich mich schämen, ihnen jemals noch einmal unter die Augen zu treten.
Franz-Josef Hanke
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