Mit Entsetzen hat die Humanistische Union von der Einigung zwischen Vertretern der SPD und den Regierungsparteien zum „Großen Lauschangriff“ erfahren. Der HU-Ortsverband Marburg fordert alle Abgeordneten des Deutschen Bundestags auf, gegen die nun ausgehandelte Verfassungsänderung zu stimmen.
Nach Ansicht des HU-Ortsvorsitzenden Franz-Josef Hanke ist der zwischen dem SPD-Verhandlungsführer Otto Schily und der Koalition erreichte Kompromiß nicht hinnehmbar.
In einem mit dem „Großen Lauschangriff“ verbundenen Eingriff ins bisher uneingeschränkt geschützte Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung sieht die HU nur den ersten Schritt zum Abbau unseres freiheitlichen Rechtsstaats. Schon äußerte Bundesfinanzminister Theo Waigel, dem „Großen Lauschangriff“ müsse schon bald die Videoüberwachung Verdächtiger folgen.
„Aus schlimmster Erfahrung mit Schnüffelei und Staatsterror heraus haben die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes den Schutz der Intimsphäre von Bürgern vor das Informationsinteresse des Staates gestellt“, konstatiert Hanke. „Eine Einschränkung dieser Freiheitsrechte kratzt am Wesensgehalt unserer Verfassung.“
Ein „Großer Spähangriff“ führt nach Hankes Ansicht die Absurdität staatlicher Schnüffelei in Privatwohnungen deutlich vor Augen: „Selbst im Schlafzimmer ist niemand mehr sicher vor ermittlungswütigen Voyeuren!“
Anlaß für Abhörmaßnahmen soll bereits ein unbewiesener Verdacht sein, der durch den Einsatz von Wanzen in Wohnungen und Büroräumen erhärtet werden könnte. Häufig wird sich dieser Verdacht jedoch nicht beweisen lassen oder gar als unbegründet herausstellen. Mitgehört werden zudem Gespräche, die auch völlig unbescholtene Bürger in den verwanzten Räumlichkeiten führen. Deshalb hält die HU auch nichts von Positivlisten derjenigen Berufsgruppen, die von Abhörmaßnahmen ausgenommen werden sollen. Darin sieht Hanke vielmehr ein Täuschungsmanöver gegenüber der Öffentlichkeit, deren Bedenken gegen staatliche Schnüffelei in sensiblen Bereichen so zerstreut werden sollen.
Vielen Zeitgenossen sei zudem nicht klar, daß eine Abhörmaßnahme ein vorheriges Anbringen von Wanzen in der Wohnung des Verdächtigten erfordert. Hier müßten Fahnder sich entweder unter einem Vorwand Zutritt verschaffen, oder sie fingierten Einbruchsdiebstähle und andere Straftaten. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der normalerweise für alle staatlichen Aktionen gilt, werde spätestens dann verletzt, wenn Ermittlungsbeamte beim Anbringen von Wanzen Straftaten begingen.
Der HU-Ortsvorsitzende ist davon überzeugt, daß Abhörmaßnahmen gegen das organisierte Verbrechen – mit deren Bekämpfung sie derzeit begründet werden – kaum Wirkungen zeitigen können. „Einerseits verdecken Mafiosi ihre Aktivitäten geschickt genug, daß man sie auch mit dem Einsatz von Wanzen nicht so einfach aufdecken kann“, bemerkt Hanke, „andererseits gibt es auch technische Geräte, die Wanzen in geschlossenen Räumen aufspüren können.“
Besonders pikant sei, daß nach den vorliegenden Meldungen neben Priestern und Rechtsanwälten auch die Abgeordneten sich selbst von Lauschangriffen ausgenommen haben. „Was sie für sich selber ablehnen, dürfen sie auch keinem anderen zumuten“, meint der Bürgerrechtler. Die HU sieht in solchen Aktionen wie auch in der Diskussion über Staatsknete für selbsternannte Steuerspitzel einen eklatanten Verlust der politischen Kultur.
Enttäuscht ist der HU-Vorsitzende über die Nachgiebigkeit des SPD-Verhandlungsführers. Immerhin gehörte Otto Schily vor 20 Jahren selbst dem Bundesvorstand der Humanistischen Union an. Er müßte – so Hanke – aus eigener Erfahrung als Anwalt vorsichtiger mit den Freiheitsrechten der Bürger umgehen!
Der HU-Ortsverband Marburg geht davon aus, daß ein Eingriff in den grundgesetzlich garantierten Schutz der Privatsphäre weitreichende Folgen haben wird. Auch wenn das Abhören einer richterlichen Genehmigung bedarf, werden Fahnder nach Befürchtungen der Bürgerrechtsorganisation immer wieder Argumente finden, um ihre Abhörmaßnahmen zu rechtfertigen. Ein einmal vorhandenes Mittel werde von Behörden immer genutzt werden, wenn es auch nur den Schein der Möglichkeit eines Ermittlungserfolges andeutet. Der „große Lauschangriff“ könnte schließlich auch gegen unbequeme Oppositionelle und kritische Journalisten eingesetzt werden.
Die HU fordert die Bundestagsabgeordneten deshalb auf, einer Änderung des Grundgesetzes, die den „Großen Lauschangriff“ möglich macht, ihre Zustimmung zu verweigern!
Dragan Pavlovic, Pressesprecher
Dragan Pavlovic