Die neoliberalen „Reformen“ der Sprache – Einige Schlagwörter auf gut Deutsch

Seit der Mensch das Sprechen gelernt hat, benutzt er die Sprache als Ausdruck eigener Interessen. Ihr Missbrauch für propagandistische Zwecke ist also beinahe genauso alt wie die Sprache selbst. Doch feiert er in jüngster Zeit in Deutschland fröhliche Urständ. Neoliberale Propaganda hat sich mit zahlreichen Wörtern längst in die Köpfe der Menschen eingeschlichen.

Schon der Begriff „neoliberal“ zielt auf eine bewusste Irreführung ab. Er setzt sich aus einem lateinischen Wortstamm und einer griechischen Vorsilbe zusammen.

„Liberal“ steht eigentlich für „freiheitlich“. Doch mehr Freiheit verheißen neoliberale Wirtschaftskonzepte nur der Unternehmerschaft. Für die allermeisten Menschen hingegen bringen sie mehr Knechtschaft.

Die griechische Vorsilbe „neo“ steht für „neu“. Doch neu ist das, was die neoliberalen Propagandisten da fordern, beileibe nicht. Der Sozialphilosoph Karl Marx hätte dasselbe Mitte des 19. Jahrhunderts wohl ganz einfach mit dem Wort „Kapitalismus“ bezeichnet.

Weitere Wörter aus dem neoliberalen Sprachschatz sind „Eigenverantwortung“ und „Eigeninitiative“. Sie wollen den Eindruck erwecken, die Menschen könnten ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen und sich dadurch von staatlicher Bevormundung befreien.

Tatsächlich aber schiebt die neoliberale Politik damit die gesellschaftliche Verantwortung für die soziale Sicherung aller auf die Einzelnen ab. Sie sollen selbst „Initiative“ zeigen, anstatt auf die solidarische Unterstützung anderer zu bauen.

Diese „Privatisierung“ der Lebensrisiken ist geradezu mörderisch. Das belegt der Fall eines 20-jährigen Erwerbslosen in Speyer. Da er aufgrund einer Lernbehinderung und psychischer Depressionen nicht fähig war zu der geforderten „Eigeninitiative“, ist er Mitte April 2007 elend verhungert.

Derartige „Kollateralschäden“ nehmen die Verantwortlichen billigend in Kauf. Im Endeffekt können sich durch den Abbau der Sozialsysteme vor allem die Unternehmer aus ihrer Verantwortung hinausstehlen und Sozialabgaben einsparen. Diesen Vorgang der „Privatisierung“ von Gewinnen in die Taschen der Reichen und Kosten oder Risiken als Belastung der Armen betreiben die marktradikalen Fundamentalisten mit hartnäckiger Konsequenz. Sei es die „Privatisierung“ der Krankenversicherung, die Verschleuderung von Staatsunternehmen wie Bahn und Post oder das „Outsourcing“ öffentlicher Dienstleistungen, immer fließen Gewinne in die Taschen der neuen „Betreiber“, während die Allgemeinheit bluten muß.

Auch „Studiengebühren“ sind ein Ausdruck dieser Ideologie. Nicht mehr der Staat ist danach für die Infrastruktur zuständig, die der Allgemeinheit zur gemeinsamen Nutzung zur Verfügung steht, sondern der Einzelne muß dafür zahlen, dass er sich zum Wohle der Gemeinschaft weiterbildet.

Derartige Angriffe auf das Gemein-Eigentum und die Sozialsysteme vernebelt die neoliberale Propaganda mit dem Wort „Reform“. Gebetsmühlenartig preisen ihre Befürworter die angeblich heilsame Wirkung von „Reformen“. Sie seien unerlässlich, um Deutschland im „globalen Wettbewerb“ zukunftsfähig zu machen.

Derzeit herrsche hierzulande ein „Reform-Stau“, behaupten die Propagandisten neoliberaler Wirtschaftskonzepte. Die sozialen Sicherungssysteme könnten nur dann überleben, wenn sie Ballast abwürfen. Die Menschen müssten notwendigerweise „mehr Eigenverantwortung übernehmen“.

Dass sich viele Menschen damit übernehmen würden, immer größere Teile ihres Einkommens in die Krankenversicherung, private Zusatz-Renten oder andere kommerzielle Sicherungssysteme zu stecken, verschweigen die Befürworter dieser Forderung. Oft erheben derartige Forderungen nach „Reformen“ ja gerade solche angeblich „unabhängigen Experten“, die selber mit Berater-Verträgen viel Geld daran verdienen.

Die Behauptung, der Staat müsse „sparen“, ist ein Element dieser Politik. Erst hat die Regierung die Steuern für Unternehmen, Vermögende und den Spitzen-Steuersatz gesenkt, um dann die dadurch entstandene Ebbe in den Kassen lautstark zu beklagen. „Reformen“ sind also in Wirklichkeit nur einzelne Schritte zur Umverteilung des Reichtums an die „Besser-Verdienenden“.

„Leistung muss sich wieder lohnen.“ Dieser Satz ist seit vielen Jahren eine der Lieblingsphrasen gerade „liberaler“ Politiker. Was aber „Leistung“ ist, bleibt dabei bewusst offen. Wie kann es sein, dass die „Leistung“ eines möglicherweise sogar unfähigen Managers mehr als tausendmal höher entgolten wird als die harte Arbeit der Beschäftigten in seinem Unternehmen?

Geringere Manager-Gehälter – so lautet die neoliberale Antwort auf diese Frage – führten bald bestimmt dazu, dass niemand mehr solche wichtigen Aufgaben in Deutschland übernehmen wolle. In anderen Ländern wie den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) sei die Bezahlung der Top-Manager schließlich auch so hoch.

Die „Globalisierung“ ist das absolute Totschlag-Argument in der Debatte um Soziale Gerechtigkeit. Von einem „Standort-Wettbewerb“ ist dabei die Rede, in dem Deutschland angeblich schlecht dastehe. Dabei ist die Bundesrepublik seit Jahren Export-Weltmeister.

Ein mehrjähriger Reallohn-Verlust ist die fatale Folge dieses Windhunde-Rennens um angebliche Wettbewerbsvorteile auf den globalen Märkten. Seit 1999 sind die Lohnstückkosten in Deutschland nach Angaben des Chef-Volkswirts der Deutschen Bank um 10 Prozent gesunken.

Durchgesetzt wurde dieses erbärmliche Sozial-Dumping mit dem Verweis auf die „Globalisierung“. Karl Marx hätte sie vermutlich als „Imperialismus“ oder „Kolonialismus“ gebrandmarkt.

Die Inanspruchnahme der staatlichen Sozialsysteme geißeln die Neoliberalen als „Mitnahme-Effekt“. Offenbar gehen sie von ihrer eigenen Empfänglichkeit für großzügige Zuwendungen aus. Jedenfalls unterstellen sie allen Erwerbslosen von vornherein einen ungerechtfertigten Bezug solcher Leistungen. Perfiderweise wurde dieser Generalverdacht gleich im Sozialgesetzbuch II (SGB II) verankert.

Während die neoliberalen Politiker sonst immer vom „schlanken Staat schwärmen und die Privatisierung selbst hoheitlicher Leistungen ohne Rücksicht auf die Folgen ständig vorantreiben, setzen sie in der sogenannten „Sicherheitspolitik“ auf einen „starken Staat“. Der Generalverdacht gegen engagierte Bürger führt dann zu einem massiven Abbau von Freiheitsrechten. Ganz besonders deutlich wurde das im Vorfeld des G8-Gipfels im mecklenburgischen Heiligendamm. Die globalisierungskritische Bewegung unterzog man flugs einmal dem Terror-Verdacht!

Die Abkürzung „G8“ bezeichnet sehr verharmlosend den Führungsanspruch von acht Regierungen über das Wohl und Wehe der gesamten Welt. Ihre Entscheidungen treffen die Gipfel-Fürsten außerhalb der – zumindestens halbwegs legitimierten – Strukturen der Vereinten Nationen (UN). Der Buchstabe „G“ steht dann vermutlich auch für „Globalisierungs-Gewinner“ oder „Großmächte“. Jedenfalls versucht dieses Kürzel, die hegemoniale Machtpolitik der beteiligten Regierungen vereinfachend zu vernebeln.

Eine regelrechte neoliberale Nebelbank ist die sogenannte „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM). Auch ihr Name besteht wieder aus mehreren Sprach-Verschleierungen.

Unter „Initiative“ verstehen die meisten Menschen heute einen Zusammenschluss von Bürgerinnen und Bürgern, um die Bedingungen für das Leben der Menschen vor Ort zu verbessern. Die „Initiative“ in Köln hingegen ist vom Arbeitgeberverband Gesamtmetall ausgegangen und üppig ausgestattet worden. Mit Millionenbeträgen betreibt die INSM eine – in der Regel verdeckte – Propaganda für ihre marktradikalen Ziele, die letztlich die Lebensbedingungen der meisten Menschen verschlechtern. Außerdem enthält der Name der INSM wieder das Wörtchen „neu“. Neu sind aber auch ihre Rezepte keineswegs.

Auch der Begriff „Soziale Marktwirtschaft“ wird von der INSM völlig umgedeutet. Sein „Vater“ Ludwig Erhard würde sich wohl im Grabe umdrehen, wenn er seinen Begriff mit den Rezepturen der INSM verknüpft fände!

Das Wort „Marktwirtschaft“ verwenden die meisten Wirtschafts-Lobbyisten heute längst nicht mehr in seinem ursprünglichen Sinn. Die regulierende Kraft des Marktes setzt ein ungefähres Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage voraus. Sie bedingt die grundsätzliche Gleichheit aller Beteiligten auf diesem Markt. Doch transnationale Konzerne und Hedge-Fonds diktieren längst die Bedingungen auf den internationalen Aktienmärkten.

Auch sozial ist das, was die INSM fordert, ganz bestimmt nicht. Doch versucht sie fieberhaft, das Wort „sozial“ umzuinterpretieren. Von ihr stammt der verdummende Spruch: „Sozial ist alles, was Arbeit schafft.“

Die Drohung mit einer Vernichtung von Arbeitsplätzen oder ihrer Abwanderung in Billig-Lohn-Länder ist dann auch das wichtigste Erpressungs-Potential der Unternehmerschaft. Für diese eigennützige Flucht aus ihrer sozialen Verantwortung machen die Unternehmer gerne den angeblichen „Standort-Wettbewerb“ verantwortlich. Im internationalen Konkurrenzkampf könnten sie nur durch Lohn- und Sozial-Dumping überleben.

Mit ähnlichen Argumenten wehren sich deutsche Unternehmer auch gegen einen gesetzlich garantierten Mindestlohn. Obwohl sich derartige Regelungen in den meisten Staaten der Europäischen Union (EU) bereits bewährt haben, malen die deutschen Unternehmerverbände auch hier wieder das Schreck-Gespenst einer Abwanderung von Arbeitsplätzen an die Wand. Dabei zeigen die Erfahrungen deutscher Spargel-Bauern bereits, dass Deutschland ohne einen solchen Mindestlohn bald keine Arbeitskräfte mehr zum Spargel-Stechen gewinnen wird.

Nach alledem stellt sich die bittere Frage, ob das Wort „Demokratie“ in dieser Bundesrepublik nicht auch allmählich eine andere Bedeutung bekommen hat als ursprünglich. Steht der griechische Begriff für die „Herrschaft des Volkes“, so muss man in der Bundesrepublik heute wohl von einer Dominanz neoliberaler Wirtschaftslobbyisten auch in der Politik ausgehen.

Die Deutungshoheit über soziale Begriffe hat sich in einigen Politik-Feldern inzwischen die INSM angeeignet. Auf ihrer Internet-Seite www.insm.de bietet sie sogar ein „Lexikon“ mit Begriffen zur Marktwirtschaft an. Durch eine Vielzahl unterschiedlicher Maßnahmen hat sie inzwischen die Definitionsmacht in der Wirtschaftspolitik erobert!

Die Redaktionen vor allem der Leitmedien haben die neoliberale Sprache längst verinnerlicht. Kritik an den Umdeutungen sozialer Begriffe oder ihrer Herabwürdigung als „veraltet“ und „sozialromantisch“ ist kaum noch verbreitet.

Wichtig bleibt nicht zuletzt auch deswegen, Wörter genauer auf ihren Gehalt zu überprüfen. Sprache kann viel verraten. Sie kann aber auch einiges vertuschen. Ein bewusster Umgang mit der Sprache ist deswegen eine wichtige Bedingung für eine selbstbewusste Teilnahme am gesellschaftlichen Diskurs.

Franz-Josef Hanke

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