„Über“n Graben, über“n Graben!“ Die Schlusszeile eines von Hans Eisler vertonten Gedichts von Kurt Tucholsky beschreibt nach Ansicht von Dr. Dr. Joachim Kahl die Geisteshaltung und das Menschenbild des berühmten deutschen Satirikers.
Aus Tucholskys „Briefen an eine Katholikin“ leitete der Marburger Philosoph am Dienstag (18. Mai) im Historischen Saal des Marburger Rathauses eine „skeptisch konstruktive Religionskritik“ ab. Der Einladung der Humanistischen Union (HU) zu dieser Veranstaltung waren gut 40 Interessierte gefolgt.
27 Briefe hatte Tucholsky zwischen 1929 und 1931 an die Journalistin Marie-Rose Fuchs geschickt. Sich selbst bezeichnete er darin als „Originalheiden“. Fuchs hingegen war praktizierende Katholikin.
1970 hat Fuchs die Briefe Tucholskys veröffentlicht. Der Autor hatte bereits kurz nach Beginn der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in seinem schwedischen Exil den Freitod gesucht.
Während der Nazi-Diktatur hatte Fuchs die Briefe des verfemten Publizisten versteckt. Erst nach 40 Jahren wurden sie schließlich publiziert.
Aus verschiedenen Briefen zitierte Kahl unterschiedliche Stellen, die seine Auseinandersetzung mit Religion, mit dem Katholizismus und mit seiner Briefpartnerin kennzeichnen. Dabei las er die Textsellen meist mehrmals, um sie anschließend zu interpretieren und zu kommentieren.
Den Autor Tucholsky bezeichnete Kahl als „streitlustig, aber nicht streitsüchtig“. Häufig sei seine Haltung als „pessimistisch“ betrachtet worden; doch für Kahl ist sie eher „melancholisch“.
Bereits beim ersten Zitat kam Kahl auf den „Graben“ zurück. Tucholsky bedankte sich bei Fuchs, dass sie ihn „nicht mit Äpfeln“ bewerfe, sondern ihm über den Graben hinweg die Hand reiche.
Von sich selbst behauptete Tucholsky, er sei „religiös unmusikalisch“. Damit griff er eine Formulierung des Soziologen Max Weber auf, die später auch der Philosoph Jürgen Habermas verwandte. Doch Kahl bestritt, dass Tucholsky „religiös unmusikalisch“ sei. Vielmehr zeige er in seinen Briefen ein erstaunliches Einfühlungsvermögen und eine große Toleranz gegenüber religiösen Empfindungen.
Auch das Wort „Heide“ fand vor Kahl wenig Gnade. Damit habe er einen Kampfbegriff seiner Gegner aufgegriffen und sich so ihrer Definitionsmacht unterstellt, meinte Kahl.
Aus dem Publikum hingegen kam die Einschätzung, diese Wortwahl sei eine – von dem Satiriker bewusst gewählte – polemische Spitze gegen die Ausgrenzung Andersdenkender. Schließlich kritisiert Tucholsky in seinen Briefen auch den Kommunismus als „Religion“.
Dem Kommunismus attestiert er sogar noch weniger Liberalität als dem Katholizismus. Denn diese Religion sei sehr alt und habe deswegen bereits viele Freiräume in ihren „Ecken“ und für „alleinreisende“ Gläubige entwickelt.
Die Machtansprüche der katholischen Kirche kritisierte Tucholsky als „Gotteslästerung“. Kahl bezeichnete diese Haltung, bei der der Religionsstifter Jesus Christus als „Revolutionär“ gelobt wurde, als „jesuanisch“.
Insbesondere das Einsegnen von Waffen während des Ersten Weltkriegs durch Geistliche auf allen Seiten sei solch eine Gotteslästerung, schrieb Tucholsky. Wer – wie er selbst – „in ein Massengrab gesehen“ habe, der verabscheue dieses Vorgehen zutiefst.
Dennoch durchzieht eine liberale Einstellung die Briefe. Positive und negative Religionsfreiheit sind für Tucholsky selbstverständlich. Dabei vertritt er eine laizistische und humanistische Grundhaltung.
Bedauerlich fanden Anwesende die Tatsache, dass über die Empfängerin der Briefe nur wenig bekannt ist. Zudem sind ihre Briefe, auf die Tucholsky sich in seinen Antworten natürlich mehrfach bezieht, nicht mehr überliefert.
Allerdings lässt sich aus Bemerkungen Tucholskys herauslesen, dass zwischen en beiden Briefschreibern auch eine erotische Komponente bestanden haben dürfte. Nicht zuletzt deswegen ist ihr Gedankenaustausch immer von gegenseitiger Achtung und Respekt geprägt.
Diesen Respekt forderte Kahl auch im Umgang mit Andersgläubigen ein. Religionsfreiheit müsse immer sowohl das Recht beinhalten, etwas Anderes zu glauben, wie auch das Recht, nicht an einen Gott zu glauben.
Franz-Josef Hanke