„Der Verfassungsschutz ist ein Fremdkörper im demokratischen Staat“, erklärte Rolf Gössner. Eine wirksame Kontrolle durch demokratisch legitimierte Gremien sei schon aus strukturellen Gründen unmöglich.
„Neonazis im Dienst des Staates – der Verfassungsschutz muss abgeschafft werden“ lautete der Titel seines Vortrags in der Philosophischen Fakultät (Phil. Fak.) der Philipps-Universität Marburg. Dort sprach der 2. Vorsitzende der Internationalen Liga für Menschenrechte am Dienstag (4. Dezember) auf Einladung des Allgemeinen Studierenden-Ausschusses (AStA), der Zeitgeschichtlichen Dokumentationsstelle Marburg (ZDM) und des Vereins Kulturelle Aktion Strömungen.
Über den Verfassungsschutz hat Gössner zahlreiche Artikel und Bücher veröffentlicht. Der Bremer Rechtsanwalt weiß aus eigener Erfahrung, worüber er schreibt und spricht. 38 Jahre lang wurde er vom Verfassungsschutz rechtswidrig observiert.
2011 hat das Verwaltungsgericht Köln diese Observation für unverhältnismäßig und verfassungswidrig erklärt. Doch das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) hat gegen dieses Urteil Berufung eingelegt.
1993 habe er die Idee gehabt, auch über ihn könnten beim Verfassungsschutz Akten vorliegen, berichtete Gössner. Nach längerer Zeit erhielt er vom Kölner Bundesamt eine Bestätigung für diese Vermutung.
Als er auch später widerholt gleichlautende Bescheide bekam, klagte er 2005 schließlich gegen die Bespitzelung. Sechs Jahre musste er danach bis auf ein Urteil warten.
Die Akten, die das BfV ihm auf einen Gerichtsbeschluss hin überstellte, waren weitgehend geschwärzt worden. Gössner zeigte einige Blätter vor, die mehr aus Schwärzungen als aus lesbarem Text bestanden.
Der Verfassungsschutz habe sich zu einer eigenen, unkontrollierbaren Macht im Staat entwickelt, beklagteGössner. Die nachrichtendienstliche Ausrichtung erhebe die Geheimhaltung geradezu zu einem grundlegenden Pfeiler dieses Systems.
An zahlreichen Beispielen zeigte Gössner auf, wie Verfassungsschutzämter des Bundes und der Länder polizeiliche Ermittlungen torpediert oder die Bestrafung von Neonazis torpediert haben. Grund dafür sei meist gewesen, dass der Verfassungsschutz die Betreffenden als Verbindungsleute (V-Leute) angeheuert hatte und sie als Informationsquelle weiterhin nutzen wollte.
Selbst in gerichtliche Verfahren greife der Nachrichtendienst deshalb ein. Sogar Urteile seien aus Gründen des „Informantenschutzes“ als „geheim“ eingestuft worden.
Bei der Wahl seiner Zuträger sei der Inlands-Geheimdienst nicht gerade wählerisch. So habe er sogar einen Neonazi angeworben, der zuvor wegen versuchten Mordes rechtskräftig verurteilt worden war.
Manche V-Leute aus dem rechtsextremen Spektrum habe die Behörde mit mehr als 100.000 Euro für ihre Leistungen entlohnt. Damit habe der Geheimdienst letztlich die Aktivitäten der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) und verschiedener Neonazi-Organisationen mitfinanziert. V-Leute hätten diese Organisationen maßgeblich mit aufgebaut und in ihnen Führungspositionen bekleidet.
Seine Aufgabe, „verfassungswidrige Umtriebe“ zu beobachten, habe der Geheimdienst so in eine indirekte Unterstützung umgewandelt. Wenn V-Leute Straftaten begangen haben, versuche der Verfassungsschutz häufig, Ermittlungen gegen sie zu behindern oder zu vereiteln, berichtete Gössner.
Nachdem mit dem NSU-Untersuchungsausschuss erstmals ein Gremium konsequent auf eine Kontrolle der geheimen Überwachungsaktionen gedrängt habe, sei der Verfassungsschutz bei seiner Vertuschungsstrategie schließlich dazu übergegangen, belastende Akten massenhaft zu schreddern. Anderenfalls wären nach Gössners Einschätzung vermutlich Fakten ans Tageslicht gekommen, die „alle unsere schlimmsten Befürchtungen übersteigen könnten“.
Dennoch versuchten Politiker der schwarz-gelben Regierungskoalition wie auch der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) nun, den Verfassungsschutz zu „reformieren“. Durch vernetzte Dateien und eine engere Kooperation mit der Polizei wollten sie den Geheimdienst effektiver machen.
Tatsächlich werde er damit für sein bisheriges Handeln belohnt, kritisierte Gössner. Das strikte Gebot einer Trennung von Nachrichtendienst und Polizei als eine der wichtigsten Lehren aus der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft werde damit weiter ausgehebelt.
Der Rechtsanwalt und Publizist forderte dagegen eine vollständige Auflösung der nachrichtendienstlichen Strukturen. Eine wissenschaftliche Dokumentationsstelle, die sich allein auf frei zugängliche Quellen stützt, sieht er als den richtigen Weg an, die Verfassung gemeinsam mit den Bürgern und der Zivilgesellschaft zu schützen.
In der anschließenden Diskussion drehte sich ein Streitpunkt um die Frage nach der Benennung des Geheimdiensts als „Verfassungsschutz“. Diese sprachliche Verschleierung findet Gössner zwar ärgerlich, doch hält er eine Kampagne dagegen für genausowenig wirkungsvoll wie die Forderung nach einer völligen Abschaffung des Geheimdiensts.
Auch die Debatten um ein Verbot der NPD beobachtet Gössner kritisch. In ihnen sieht er einen Ablenkungsversuch der Politik vom Versagen der Behörden nach dem beschwichtigenden Motto „Seht her, wir tun doch etwas!“
Gössner befürchtet, dass auch das erneute Verbotsverfahren wieder an der starken Durchsetzung der NPD mit V-Leuten scheitern könnte, die die aggressive Politik dieser Partei maßgeblich mit geprägt hätten. Die Behauptung mehrerer Landesinnenminister, die V-Leute seien kein Problem mehr, kann er nicht nachvollziehen.
Rechtsstaatlich sei jedes Parteiverbot überaus fragwürdig, betonte er. Der zwischenzeitlich zum Stellvertretenden Verfassungsrichter des Bundeslands Bremen avancierte Jurist sieht den besten Weg einer Bekämpfung des Rechtsextremismus vielmehr in einer öffentlichen Auseinandersetzung mit faschistischen Gesinnungen, Aktivitäten und Parteien.
Franz-Josef Hanke