Geschichten aus dem Paralleluniversum
– Märchen aus 1001. schlaflosen Nacht –
(Reinhard Neubauer, Marburg, 23.10.2017)
Vorwort:
2016 gerieten die „Reichsbürger“ in den Fokus der Öffentlichkeit: Sie bedrohten die Kanzlerin und den Bundespräsidenten mit erfundenen Geldforderungen.
Im August und im Oktober lieferten sich zwei „Reichsbürger“ eine Schießerei mit der Polizei; ein Polizist wurde tödlich verletzt.
Mit dem folgenden Vortrag möchte ich auf die vielen „Reichsbürger“ eingehen, die nicht in den Medien präsent sind, sondern „unter dem Radar“ durchfliegen. Dabei wird aufgezigt, welche Auseinandersetzungen die „Reichsbürger“ in den Gemeinden und Landkreisen führen.
Die von mir gewählte Märchenform betrifft nur die Komplexität der Geschichte. Die einzelnen Kapitel sind alle nicht erfundern, sondern sind reale Vorfälle aus Brandenburg und anderen Bundesländern.
Kap. 1
Wie der „Reichsbürger“ auf die Welt kam:
Es fängt in der Gemeinde an.
1. Ein Mensch zieht in die Gemeinde, meldet sich nicht an und hat keinen Namen an der Klingel und auf dem Briefkasten. Die Post ist nicht zustellbar.
Die Anmeldung von Amts wegen bereitet Probleme, weil die Daten nicht bekannt sind.
oder
2. Der „Reichsbürger“ wohnt bereits in der Gemeinde, er meldet sich ab, zieht aber nicht fort, hat keinen Namen an der Klingel und auf dem Briefkasten. Die Post ist nicht zustellbar.
Die Daten sind aber bekannt.
Kap. 2
Der „Reichsbürger“ kommt zum Einwohnermeldeamt und will den Personalausweis abgeben und die Abgabe und Zerstörung des Ausweises quittieren lassen. Das sollte der Gemeindebeamte nicht tun! Der Personalausweis steht im Eigentum der Bundesrepublik.
Der „Reichsbürger“ besitzt einen „Ausweis“ des „Deutschen Reiches“ und außerdem eine Ernennungsurkunde als Beamter des Deutschen Reiches. Eine Kopie will er sich in der Gemeinde beglaubigen lassen. Das passiert nicht! § 33 VwVfG lässt eine solche Beglaubigung nicht zu.
Kap. 3
Im Amt für Personenstandswesen des Landkreises fordert der „Reichsbürger“ einen Staatsangehörigkeitsausweis zur Dokumentation seiner deutschen Staatsangehörigkeit, obwohl diese nicht zweifelhaft ist. Es gibt mehrere Versionen der Geschichte:
1. Das Amt erstellt den Ausweis gegen Gebühr
2. Das Amt erstellt den Ausweis nicht, da niemand die deutsche Staatsangehörigkeit anzweifelt.
3. Das Amt fordert einen Gebührenvorschuss, der „Reichsbürger“ bezahlt nicht.
Kap. 4
Außerdem erzählt der „Reichsbürger“, die Kreisverwaltung sei eine Firma und die Landrätin die Geschäftsführerin. Das ergäbe sich aus einer ausländischen Gewerbeauskunftei. Auch Frau Merkel sei eine Geschäftsführerin, und zwar der BRD GmbH. Die Bundesrepublik sei eine NGO. Bescheide könnten nicht erlassen, sondern nur zivilrechtliche Verträge abgeschlossen werden.
Den Abschluss eines Vertrages über die Zahlung eines Bußgeldes in Höhe von 20 EUR lehne er entschieden ab. Die Bundesrepublik sei untergegangen, das Grundgesetz ungültig, der Landkreis solle seine Gründungsurkunde vorlegen, und zwar im Original.
Er sei eine „natürliche Person im Sinne des § 1 BGB“. Die Bundesbürger seien „Personal der BRD GmbH“ und damit „juristische Personen“. Daher hätten sie einen „Personalausweis“.
Kap. 5
Mit dem Auto fährt der „Reichsbürger“ gerne schnell und auch zu schnell. Die Bußgelder bezahlt er nicht. Vielmehr droht er dem Verkehrskontrolleur: Das hier sei ein besetztes Land, Bußgelder vollstrecken sei Plünderung, darauf stünde laut Haager Landkriegsordnung die Todesstrafe. Er werde die „Militärpolizei“ holen, wenn das Messgerät nicht abgebaut wird.
Kap. 6
In der daraufhin folgenden Anhörung zum Bußgeldverfahren teilt der „Reichsbürger“ mit, dass OWiG existiere nicht mehr. Ihm fallen einige Begründungen ein:
1. Es sei durch den Einigungsvertrag aufgehoben worden
oder
2. es habe keine CELEX-Nummer
oder
3. es habe keinen Geltungsbereich
oder
4. es sei durch die Rechtsbereinigungsgesetze 2007 durch den Bundestag versehentlich außer Kraft gesetzt worden, indem das Einführungsgesetz aufgehoben worden sei
oder
5. alle Gesetze seien 2013 außer Kraft gesetzt worden
oder
6. es sei kein Gesetz des fortbestehenden Deutschen Reiches
oder
7. die BRD sei 1990 untergegangen und damit auch ihr OWiG von 1968.
Kap. 7
Die Fahrerlaubnisbehörde ordnet daraufhin an, der „Reichsbürger“ solle zur MPU gehen, um untersuchen zu lassen, ob er eine Gefahr für den Straßenverkehr darstellt, weil er bundesdeutsches Recht, insbesondere das Straßenverkehrsrecht, ablehnt.
Der „Reichsbürger“ teilt mit, er sei ein freier und natürlicher Mensch. Untersuchen lässt er sich natürlich nicht. Die Fahrerlaubnis wird entzogen.
Dies ist ein sehr strittiges Thema mit umfassender Rechtsprechung aus Brandenburg (OVG Berlin-Brandenburg). Tenor: Der „Reichsbürger“ ist zu behandeln wie jederandere Autofahrer. Seine Gefahr für die übrigen Verkehrsteilnehmer muss durch Taten belegt sein.
Kap. 8
Konter des „Reichsbürgers“: Er gibt seinen Führerschein ab. Grund: Er hat ja jetzt einen eigenen „Führerschein“ vom „Königreich Deutschland“. Eine Erklärung, dass er auf die Fahrerlaubnis verzichtet, unterschreibt er nicht.
Das Ergebnis: Fahrerlaubnis erlischt.
Das will der gemeine „Reichsbürger“ natürlich nicht wahrhaben, wie z. B. der „König von Deutschland“. Er fährt weiter fleißig Auto. Ergebnis: 2 Jahre, 8 Monate wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis.
Kap. 9
El classico
Da der „Reichsbürger“ keine KFZ-Steuern bezahlt, wird sein Auto zwangsstillgelegt. Das kostet eine Gebühr von 280 EUR.
Der nachfolgende Prozess um die Vollstreckung der Gebühr dauert keine sieben Jahre…
Am Ende stellt sich heraus: Der „Reichsbürger“ ist „meineidig“ geworden und Hochverräter, denn er bezieht sein Geld von einer bundesdeutschen Behörde: Jobcenter, Arbeitslosengeld II. Bezahlen kann er nichts.
Er hängt sich noch schnell ein neues Nummernschild des „2ten Deutschen Reiches“ an sein Auto – das auch nicht billiger gewesen ist als ein legales Nummernschild. Damit fährt er dann über die Lande.
Kap. 10
Sodann will der Vollstreckungsbeamte vollstrecken und das Auto stilllegen. Er wird in der Wohnung des „Reichsbürgers“ eingesperrt.
Die zur Unterstützung herbeitelefonierte Polizei springt über den Gartenzaun. Es gibt ein einstündiges Wortgefecht mit Beinahschlägerei. Alles wird gefilmt und bei Youtube eingestellt.
Der leitende Polizeibeamte erhält eine Strafanzeige des „Reichsbürgers“ wegen „Plünderung“. Nach Einstellung des Ermittlungsverfahrens legt der „Reichsbürger“ Beschwerde ein und zögert das Verfahren hinaus.
Die anstehende Beförderung des Polizisten wird erst einmal auf die ganz lange Bank geschoben.
Kap. 11
Der Vollstreckungsbeamte der Gemeinde versucht, GEZ-Gebühren zu vollstrecken (heute: Beitragsservice). Der „Reichsbürger“ moniert den Dienstausweis, bezweifelt die Beamteneigenschaft, begehrt den Rundfunk-Staatsvertrag im Original zu sehen und will natürlich gerne bezahlen – wenn alles geklärt ist.
Geklärt wird natürlich nichts und kann auch nicht: Es gibt keinen Original-Staatsvertrag, der nach der 20. Änderung den gültigen Wortlaut wiedergibt.
Fazit: Die Zahlungswilligkeit ist unter die Erfüllung einer nicht erfüllbaren Bedingung gestellt.
Kap. 12
Um weitere Vollstreckungen zu sabotieren, organisiert der „Reichsbürger“ Verstärkung. Die Geschichte existiert in mehreren Varianten:
1. Hilfe durch das Deutsche Polizei Hilfswerk DPHW. Deren Eigenwerbung lautet: „Das DPHW entstand latent aus dem Volke.“ Also eine Volkspolizei. Sie stellt 13 Schläger ab.
Oder
2. Verstärkung durch eine „Justizopferhilfe“ in Gestalt des Amtes für Menschenrechte oder das „indigene Volk der Germaniten“. Der Terminus „indigen“ taucht inzwischen bei mehreren „Reichsbürger“-Organisationen auf, z. B. dem „indigenen Volk der Preußen“. Offensichtlich soll differenziert werden zwischen „den Fremden“ und „den Guten“, also den Ureinwohnern, die aufgrund dieser Eigenschaft alle anderen von einer Mitbestimmung ausschließen dürfen. Die „Fremden“ mögen das Land verlassen…
Kap. 13
Der „Reichsbürger“ übt ein Gewerbe aus, Steuern bezahlt er nicht, Sozialversicherungsbeiträge auch nicht. Alles ist vorstellbar:
1. Er hat das Gewerbe gar nicht erst angemeldet
oder:
2. Er hat das Gewerbe angemeldet, es droht die Gewerbeuntersagung (§ 35 GewO), er meldet das Gewerbe ab. Denn er hat ja eine Gewerbeerlaubnis der „Administrativen Regierung des Freistaat Preußen“ (Genitivfehler im Original) – mit Sitz in Dresden
oder:
3. Vor der drohenden Gewerbeuntersagung verlegt er sein Gewerbe nach Weißrussland oder ins Baltikum mit Außenstelle am bisherigen Ort.
Kap. 14
Außerdem hat der „Reichsbürger“ ca. 20 Schuss- und Jagdwaffen und droht dem Gerichtsvollzieher wegen Plünderung mit der Todesstrafe nach Haager Landkriegsordnung.
Kap. 15
Sein Kind will der „Reichsbürger“ natürlich nicht in eine Schule schicken, denn: BRD-Schule.
Kap. 16
Abfallgebühren werden nicht bezahlt.
Der „Reichsbürger“ schickt der Behörde ein Schreiben: Dies ist kein Widerspruch und kein Einspruch, sondern eine grundsätzliche Zurückweisung. Eine Behörde und ein Bescheid würden nicht existieren, deshalb könne kein Widerspruch eingelegt werden.
Sollte die Abfallbehörde weiterhin Gebührenbescheide verschicken, entstehe ein „Vertrag“ mit einer Pflicht zur Zahlung von „Vertragsstrafen“ in Höhe von bis zu 500 Billionen Dollar. Eine Menge Geld. Die Behörde zahlt nicht. Daraufhin droht der „Reichsbürger“ mit einer Eintragung im US-amerikanischen UCC-Register und einem Mahnbescheid aus Malta.
Kap. 17
Eine ähnliche Geschichte bei den Schornsteinfegergebühren.
Der „Reichsbürger“ hat inzwischen eine neue Idee:
Er ist „in Selbstverwaltung“ und damit sein eigener „Staat“ mit eigener „Verfassung“ auf der Grundlage eines Halbsatzes in einer UN-Resolution. Zu seinem „Staat“ erklärt er: „Dies ist meine natürliche Föderation als globales Völkerrechtssubjekt, das hier treuhänderisch ansprechbar ist.“ Dass eine Föderation aus mehr als nur einem bestehen muss, ist dem „Reichsbürger“ entgangen. Man soll keine Fremdwörter benutzen.
Aber: Die „Selbstverwaltung“ wurde anerkannt! Vom Vatikan!! Der „Reichsbürger“ hatte dem Papst einen Brief geschickt: „Wenn Sie meine Selbstverwaltung diplomatisch anerkennen wollen, schicken sie bitte den Rückschein meines Einschreibens unterzeichnet zurück.“ Der Rückschein belegt allerdings nur den Erhalt des Briefes und nicht, dass der Empfänger vom Inhalt Kenntnis genommen hat.
Kap. 18
Als freier und selbstverwalteter Mensch heißt „Reichsbürger“ Thomas Mann ab sofort nicht mehr Thomas Mann, sondern Thomas, Mann aus der Familie Mann („a.d.F.“). Denn er ist ein freier Mensch und keine Person. Unterschrieben hat er aber nach wie vor als „natürliche Person gemäß § 1 BGB“.
Das Betreten seines Grundstückes ist für Gerichtsvollzieher verboten! Bei einer Vollstreckung kommt es zu einer Schießerei mit dem SEK
Kap. 19
Den „Reichsbürger“ werden wir doch noch elegant los: Er verzieht in eine kreisfreie Stadt.
Allerdings steht ein Bußgeld noch aus. Der Bußgeldbescheid ist bestandskräftig. Jetzt müssen die Berliner Kolleginnen und Kollegen Amtshilfe bei der Vollstreckung leisten.
Der „Reichsbürger“ erwidert: Er zahle nicht, das OWiG sei ungültig und gelte nicht, Vollstreckung sei Raub und Plünderung, das habe er auch schon dem Landkreis mitgeteilt, eine Antwort stehe noch aus, das müsse noch geklärt werden. Die Vollstrecker sind überrascht und überrumpelt. Die Vollstreckung im Wege der Amtshilfe wird erst einmal eingestellt
Kap. 20
Am Ende ist der „Reichsbürger“ völlig isoliert und pleite und begehrt Sozialhilfe vom Sozialamt. Es gibt verschiedene Versionen:
1. „Sozialhilfe“ in Höhe des Soldes eines Bundeswehrsoldaten auf der vermeintlichen Rechtsgrundlage der Haager Landkriegsordnung, weil er sich als „Kriegsgefangener“ in einem besetzten Land wähnt. Wahn ist hier der richtige Ausdruck.
So absurd die Geschichte auch klingen mag: Stand Mitte 2017 gab es mindestens 20 Gerichtsverfahren vor den Verwaltungs- und Sozialgerichten…
oder
2. Weil das sehr wenig Geld ist, begehrt er, als „Kriegsgefangener“ mit der Besoldungsgruppe B 11 bedacht zu werden. „Kriegsgefangener“ – ein Beruf mit großer Zukunft…
oder
3. Der „Reichsbürger“ stellt einen Antrag auf Arbeitslosengeld II beim Jobcenter, ohne allerdings mitwirken zu wollen. Die Anmeldebestätigung und den Ausweis des „Deutschen Reiches“ erkennt das Jobcenter nicht an. Auch die Kinder bekommen kein Geld – hier droht das Jugendamt.
4. Die meisten „Reichsbürger“ erhalten ALG II – von einer Behörde, die sie nicht anerkennen.
Kap. 21
Der „Reichsbürger“ meldet sich im Sozialamt an und will dort persönlich vorsprechen. Aufgrund seiner gewaltverherrlichenden Anschreiben möchten die Kolleginnen mit ihm nicht sprechen. Dazu folgende Fälle:
1. Er kommt vorbei, es kommt zu einer verbalen Auseinandersetzung, dann droht der „Reichsbürger“ mit Todesstrafe, schlägt eine Beamtin und wirft einen Schreibtisch um. Konsequenz: Strafanzeige und Hausverbot.
2. Der „Reichsbürger“ erscheint persönlich und bringt zwei Kumpels und einen Hund mit. Der Hund soll mit ins Büro…
Kap. 22
Weil die Sachbearbeiterin im Sozialamt dem Ansinnen des „Reichsbürgers“ nicht nachkommt und keinen Bundeswehrsold bewilligt, ruft der „Reichsbürger“ an und möchte erst den Amtsleiter, dann den Dezernenten und dann den Oberbürgermeister sprechen. Er hat auch schon mit dem Ministerpräsident telefoniert. Und mit dem Papst. Die Chefsekretärin wird überrumpelt und unterhält sich angeregt eine Stunde ergebnislos.
Kap. 23
Weil die Behörde nicht mitspielt, klagt der „Reichsbürger“ gegen den ablehnenden Bescheid. In seinen Schreiben an das Gericht beschimpft er den Richter, hält das selbst angerufene Gericht für nicht existent, beschuldigt den Richter des Meineides und des Hochverrates.
Kap. 24
Der „Reichsbürger“ hat jemanden erfolgreich agitieren können: den örtlichen Polizisten seiner kleinen Heimatgemeinde. Dieser möchte nämlich keinen Unterhalt für seine Ex zahlen und legt sich mit der Behörde an, die den Unterhaltsvorschuss leistet. Anscheinend hat er vergessen, dass er Beamter ist. Vier Wochen später schlendert der Polizist wieder durch den Ort, ohne Uniform, ohne Waffe. Das Verwaltungsgericht hat seine sofortige Suspendierung vom Dienst wegen „Reichsbürgerei“ für rechtmäßig erachtet.
Kap. 25
Das Ende des „Reichsbürgers“?
Und wenn er nicht gestorben ist, dann macht er heute immer noch weiter.
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